Geschichten:Die Brut der Geißel - Teil 4
08. Hesinde 1033 BF
Gernot saß jetzt schon ein wenig länger hier. Er beobachtete das Spiel des Mühlenrades. So bekam er gar nicht mit, wie jemand über den Steg zu ihm herantrat. Erschrocken blickte Gernot auf und sah, wie sich Reto zu ihm setzte. „Ist Dir hier nicht zu kalt, Junge?“ fragte ihn der Ritter. „Nein, mir ist nicht kalt.“ antwortete Gernot mürrisch. Reto nickte. „Na gut, aber Anshild sucht nach dir! Wir wollten doch Deinen Tsatag feiern!“ „Ich habe keine Lust!“ Gernot blieb weiterhin mürrisch. Reto lächelte. „Welche Laus ist dir denn über die Leber gelaufen, Kleiner?“
Gernot zog die Augenbrauen zusammen und verschränkte die Arme vor der Brust: „Das weißt Du ganz genau!“ Reto nickte. „Hör mal, ich verstehe, dass Du wissen möchtest, woher Du kommst!“ sprach er ruhig. Gernot schaute zu dem Ritter: „Jeder hier kennt seinen Vater und seine Mutter!“ Wieder nickte Reto. „Mir bleibt nur eine dunkle Erinnerung an eine Frau, von welcher Du sagst, sie sei meine Mutter!“ Reto wusste nicht, was er dem Jungen sagen sollte. „Du kennst doch meinen Vater, Reto!“ Reto hob abwehrend die Hände. „Kennen würde ich das nicht nennen!“ Gernot schaute Reto jetzt eindringlich an. „Sag mir doch endlich, wer meine Eltern sind!“ Reto griff sich in den Bart und grübelte. „Das haben wir doch schon besprochen! Ich werde Dir die gesamte Geschichte Deiner Eltern erzählen! Aber ich entscheide über den Zeitpunkt!“ Gernots Mund zeigte erneut Unmut. „Das ist nicht gerecht!“ rief er aus. Reto schüttelte den Kopf. „Gerecht? Ich habe Deiner Mutter einst das Versprechen gegeben, dass ich Dir ein guter Lehrmeister sein werde.“
Jetzt war es an Gernot zu nicken. Diese Geschichte kannte er. „Gerecht wäre es gewesen, wenn sie Dich hätte aufwachsen sehen können! Doch die Götter haben anderes für sie bestimmt!“ Gernot musste an das Grab seiner Mutter im Ort denken. Beschämt schaute er zu Boden, als ihm auffiel, dass er das Grab zuletzt vor einem Mond besucht hatte. Reto knurrte. „Also, können wir jetzt zu Anshild gehen?“ fragte er ruhig. Man sah Gernot zwar seinen Unmut immer noch an, doch er nickte zaghaft.
Kurze Zeit später hatten sie die Burg erreicht. Ludorand von Schwingenfels hatte Reto zwar vor fünf Jahren als Burgvogt absetzen lassen, doch die Familie hatte Räumlichkeiten in der Burg beziehen dürfen. Hierher lenkte Reto nun seine Schritte. Gernot trottete ihm hinterher. Reto öffnete die Tür zur Kammer und Gernot blieb wie angewurzelt stehen. Alle seine Freunde hatten sich versammelt. Und auch Retos Frau sowie die Töchter Irmegunde und Ayla hatten sich dort eingefunden. Sie alle riefen ihm zu: „Alles Gute zum Tsatag!“
Gernots Miene hellte sich merklich auf und er betrat den Raum. Anshild lächelte und umarmte den Jungen, welchen sie und ihr Mann angenommen hatten. Irgendwie empfand sie ihn als ihr fünftes Kind, auch wenn sie wusste, wessen Sohn er wirklich war. Sie schaute über die Schulter des Jungen zu Reto, welcher zurück lächelte. Ihren fragenden Blick beruhigte er mit einer Geste, doch dann räusperte er sich: „Da heute Dein vierzehnter Geburtstag ist, junger Mann, soll sich fortan auch einiges für Dich ändern!“ Er holte ein Schwert hervor, welches er beim Schmied in Auftrag gegeben hatte. Es war natürlich stumpf, aber für die anstehende Ausbildung zum Knappen bestens geeignet. Gernot machte große Augen. „Ab heute werde ich einen Ritter aus Dir machen!“ sprach Reto feierlich. „Bist Du bereit mein Knappe zu sein?“ fragte er Gernot.