Geschichten:Die Rückkehr der Pfortensteiner - Ein Tropfen auf ein volles Fass
18. Rondra, Gut Blaustein, Kaiserlich Randersburg, mittags
„Jeswine?“ Wulfhelm von Keilholtz betrat behutsam das Schlafgemach, in das seine Frau sich zurückgezogen hatte, nachdem sie von Schloss Sonnenfeld zurückgekehrt waren. Er fand die Ritterin mit verschränkten Armen in grüblerischer Pose vor dem Fenster stehend vor, von wo sie in den Gutshof hinunterblickte. Der Greifenfurter schloss die Tür und setzte sich mit einem vernehmlichen Seufzen auf den hölzernen Schemel am Fußende des Bettes. „Magst du mir dann vielleicht erklären, was da auf Junker Kesselsteins Fest gestern eigentlich genau passiert ist? Du weißt, ich unterstütze dich gerne bei allem was dir wichtig ist. Schließlich bist du meine Frau und trägst unser Kind in dir. Trotzdem habe ich das Gefühl, dass ich nicht alles weiß, was ich wissen müsste, um zu verstehen was hier vor sich geht und worauf ich mich eingelassen habe.“
Die Reichsforsterin sah ihren Gatten mürrisch an, wand sich dann aber vom Fenster ab und setzte sich auf das Bett. Sie atmete einmal besonders tief durch, um sich innerlich zur Ruhe zu rufen, bevor sie antwortete.
„Natürlich, das ist dein gutes Recht.“ Gefasst sah Jeswine ihm in die Augen. „Von meiner Familie habe ich dir doch schon ein paar Mal erzählt, wenn ich mich nicht irre.“
Wulfhelm nickte. „Du erwähntest einen Bruder und eine Schwester, diverse Basen und Vettern und dass deine Mutter aus Kressenburg stammt. Dazu ein paar Lehen, Junker- und Rittergüter in Rubreth und Rallerspfort. Was ist nicht kenne, ist die Geschichte deiner Familie und was genau damals in der Reichsforster Fehde vorgefallen ist.“ Forschend blickte er seine Frau an. „Denn darauf hat Vögtin Lechmin angespielt, wenn ich das recht verstanden habe.“
„Tja, da liegt der Hund begraben.“ Jeswine sah wieder zum Fenster hinüber und in den blauen Himmel hinaus. „Genau hundert Götterläufe ist es nun her. Die Schande unserer Familie“, sprach sie bitter. Mit festem Blick sah sie zurück zu Wulfhelm, entschlossen ihm alles zu erzählen. „Es war meine Großmutter, Halwîne von Pfortenstein. Sie wurde in jungen Jahren Junkerin auf Burg Pfortenstein, an der Grenze zur Kaisermark. Ihr Vater war kurz zuvor in einem Gefecht gegen die Kaiserlichen an Rondras Tafel gerufen worden. Nun hatte sie, die kaum ihren Ritterschlag erhalten hatte, die Verantwortung für das Familienlehen und ihre jüngeren Geschwister, als plötzlich im Winter neunhundertvierundvierzig die kaiserlichen Truppen vor den Burgtoren standen. Sie hatte keine Hoffnung auf Flucht oder Entsatz, denn Graf Adhemar saß längst auf Rudes Schild im Kerker und die meisten seiner Getreuen waren besiegt, gefangen oder zerstreut. Sie hatte die Wahl ehrenvoll zu kämpfen und zu sterben und ihre Geschwister einem ungewissen Schicksal auszuliefern oder ihr Knie vor Kaiser Pervals Zwingvogt, dem berüchtigten Marbert von Mersingen, zu beugen. Sie wählte das Überleben ihrer Familie. Halwîne öffnete den Kaiserlichen Truppen die Tore Pfortensteins und lieferte ihnen damit ganz Rallerspfort aus. Als die Kaiserzwillinge ein paar Götterläufe später die Fehde für beendet erklärten und Graf Adhemar nach Luring zurückkehrte, vergab er offiziell auch allen seinen Vasallen, die in der Fehde nicht bis zu ihrem eigenen Untergang für ihn gekämpft hatten.“
„Graf Adhemar hat deiner Großmutter ihre Tat also nicht nachgetragen. Wo liegt dann das Problem?“
„Das Problem sind die ach so ritterlichen Familien Reichsforsts! Der Graf mag uns vergeben haben. Doch jene die in der Fehde offen und im Geheimen weiter gegen den Zwingvogt agiert haben, haben Halwîne und unsere Familie hernach nie wieder ihren Platz unter den Rittern Reichsforsts zugestanden. Bis heute lassen sie uns bei jeder Gelegenheit spüren, dass sie sich für etwas Besseres halten und tragen uns Großmutters Verrat nach.“ Jeswine schnaubte unwillig. „Als hätte sie tatsächlich eine Wahl gehabt. Außerdem war sie weder die Erste noch die Einzige, die ins kaiserliche Lager wechselte. Zu ihrem Pech hat sie im Gegensatz zu den anderen Überläufern die Fehde überlebt.“ Wieder klang die Pfortensteinerin sehr verbittert.
„Aber wie du selbst sagst, das Ganze ist jetzt hundert Götterläufe her.“ Nachdenklich fuhr sich der Keilholtzer mit der Hand durch den ergrauenden Bart. „Irgendwann gerät sowas doch auch in Vergessenheit und es wächst Gras drüber.“
„Sollte man meinen, nicht wahr? Aber die anderen Reichsforster Familien lassen uns nicht vergessen. Wir sind Außenseiter. Sicherlich, sie dulden uns auf Turnieren und Festen, aber doch lassen sie einen immer spüren, das nichts vergeben und vergessen ist. Wir sind so treu und loyal zur Grafschaft wie ehedem. Doch würde zum Beispiel keine Reichsforster Ritterfamilie, die etwas auf sich hält, einen Pfortensteiner heiraten.“ Jeswine sah Wulfhelms zweifelnden Blick. „Du glaubst mir nicht? Fangen wir bei Junkerin Halwîne an. Nach der Fehde fand sie unter den Reichsforster Rittern keinen, der den Traviabund mit ihr geschlossen hätte. Auch weil sich das böse Gerücht verbreitet hatte, sie hätte Zwingvogt Marbert während der Jahre der Besetzung das Bett gewärmt. Also nahm sie schließlich einen Peraine-Geweihten aus einem Waldsteiner Edlengeschlecht zum Mann. Ihren Geschwistern erging es ähnlich. Sie alle heirateten unter Stand und der Name Pfortenstein erlosch letztendlich in ihren Linien.“
Jetzt begann die Ritterin an den Fingern abzuzählen. „Halwînes Erbin Onwina heiratete ebenfalls einen unbedeutenden Waldsteiner Edlen, deren Tochter Gerhild einen Drittgeborenen Ritter aus der Kaisermark. Deren Söhne sind Rondradan, Roban und Harbolf. Roban starb mit Ende zwanzig im Kampf, unverheiratet und ohne Erben. Harbolf ehelichte immerhin eine Baronstochter, aber eben auch wieder aus Waldstein stammend. Rondradan ist jetzt unser Familienoberhaupt, doch fand er ebenfalls keine Reichsforster Braut und heiratete schließlich die inzwischen ehemalige Landvögtin von Rubreth aus dem Haus Ehrenstein. Hochedles Blut, sicherlich. Doch kostete ihn das für seine Kinder die Zugehörigkeit zu unserer Familie, weswegen das Stammlehen der Familie auf Harbolfs noch unmündigen Sohn Ludolf übertragen wurde, da Harbolf selbst inzwischen der Rondra-Kirche beigetreten ist und in Perricum dient.“ Herausfordernd sah sie Wulfhelm an. „Soll ich weitermachen?“
„Nur immerzu“, ermunterte sie ihr Gemahl interessiert. „Bis jetzt hast du mir nur einen Familienzweig aufgezeigt. Das kann sich doch so kaum in allen Linien fortgesetzt haben.“
„Warte es ab“, meinte sie trocken und hob den zweiten Finger. „Es wird sogar noch schlimmer. Mein Vater Sharban fand ebenfalls lange keine Braut, bis er die Grafschaft schließlich verließ und bei einem Turnier in Greifenfurt meine Mutter freite. Da zählte er bereits fast fünfzig Götterläufe. Mein Bruder Irion ist ebenfalls schon vierzig und noch immer unvermählt. Vielleicht findet er jetzt endlich eine Frau, da er im Frühjahr mit einem Rittergut in Rubreth belehnt wurde. Aber wirklich daran glauben kann ich nicht. Meine Schwester Olmerga hat damals nach Eslamsgrund geheiratet, um nicht in Reichsforst zu versauern. Einen Golgariten aus einem unbedeutenden Rittergeschlecht, aber immerhin tragen ihre Kinder unseren Familiennamen weiter. Naja, und was ich abbekommen habe weißt du ja selbst“, fügte sie mit einem gespielt gequälten Grinsen hinzu. „Einen fast greisen Greifenfurter, der zu meinem Glück nichts vom schlechten Ruf meiner Familie wusste. Sonst wäre ich wohl irgendwann tatsächlich als alte Jungfer geendet. Glaube mir, diese Angst war der Hauptgrund den Bund mit dir zu schließen.“
„Na vielen Dank auch!“, entrüstete sich Wulfhelm ebenfalls nur halb im Ernst. „Aber hattest du nicht auch noch etwas von einer Base in Hartsteen erzählt?“
„Ja, die Linie meiner Tante Raulwine.“ Damit hob sie den dritten Finger an ihrer Hand. „Sie floh wortwörtlich aus der Grafschaft und diente dann in der kaiserlichen Armee. Wer der Vater ihrer Tochter war hat sie uns nie verraten. Vielleicht wusste sie es aber auch selber nicht. Meine Base Leudane war letztlich keinen Heller besser als ihre Mutter. Sie wuchs praktisch in der Armee auf und hatte die entsprechenden Manieren. Drei Kinder hat sie über die Jahre nach Pfortenstein gebracht, weil sie ihr wohl beim Versuch Karriere zu machen lästig waren. Doch wer der oder die Väter waren behielt sie bis zu ihrem Tode für sich. Ysinthe ist dann tatsächlich an den Baronshof nach Bärenau gegangen und hat einen der dortigen Dienstritter geehelicht. Xaviera wird in wenigen Wochen den Junker von Berstenbein aus der Familie Radewitz heiraten.“ Sie sah Wulfhelms triumphierenden Blick und winkte sofort ab. „Bevor du denkst, dass du mich widerlegt hast, lass dir gesagt sein, dass die Radewitzer keine normale Reichsforster Familie sind. Die stammen nach allem was ich weiß von bornischen Heckenrittern ab. Ihr Stammlehen liegt hier in Randersburg, sie sind so gesehen also eher Kaiserliche als Reichsforster. Wie dem auch sei, der letzte ist dann noch Vetter Danos. Der dient als Hauptmann der Waffenknechte beim Baron von Rallerspfort und hat trotz seiner fast dreißig Lenze soweit ich weiß auch noch keine standesgemäße Verbindung in Aussicht.“
„In Ordnung“, sprach Wulfhelm, während er sich ergebend die Hände hob. „Wir halten also fest, dass niemand in der Grafschaft die Familie Pfortenstein wirklich leiden kann. Trotzdem war Junker Kesselstein sehr bemüht darum die Wogen zu glätten und den Frieden zu wahren. Bei ihm hatte ich nicht den Eindruck, dass er ein Problem mit dir hatte.“
„Und das halte ich ihm sehr zugute“, sagte Jeswine ernst. „Denn seine Familie ist eine von jenen, die in der Reichsforster Fehde bis zum Schluss treu zu Graf Adhemar standen und dies mit einem sehr hohen Blutzoll bezahlten. Auch wenn mir klar ist, dass er mich nicht um meinetwillen eingeladen hat, sondern nur, weil ich deine Frau bin und du der Vetter seines Schwiegersohnes. Aber diese Erlenfall hat das Fass zum Überlaufen gebracht! Wenn wir das auf uns sitzen lassen, verlieren wir vor den Reichsforster Familien erneut und endgültig unser Gesicht. Diese Beleidigung unserer Familienehre lässt sich nur mit Erlenfaller Blut abwaschen!“
„Dann sei es so“, erwiderte der Keilholtzer ruhig. Jetzt war es an der Pfortensteinerin überrascht zu schauen. „Guck nicht so. Ich habe vor Travia geschworen deine Ehre genauso zu verteidigen, wie die meine. Außerdem habe ich ganz genau gehört was die Erlenfall über mich gesagt hat und ich habe nicht vor das auf mir sitzen zu lassen. Niemand nennt einen Greifenfurter ungestraft einen Halbork!“, schloss Wulfhelm grimmig.
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