Geschichten:Die Rückkehr der Pfortensteiner - Siege und entzweie
Anfang Peraine, Wehrhof Erlenfall, mitten in der Nacht
Es ging aufwärts, das war gut so. Stufe um Stufe erklomm er die Höhe, das Mauerwerk rechts und links von ihm strömte zwar eine Kälte aus, die unangenehm war, aber er roch schon die laue Luft am Ende der Treppe. Oben, wo es licht war und der Himmel sich wölbte.
Aufwärts, immer aufwärts. Das war seine Lieblingsbewegung, immer schon gewesen, aufwärts. Mit Leichtigkeit nahm er zwei Stufen auf einmal. Sei seidener Umhang bauschte sich violett hinter ihm wie Flügel eines erhabenen Käfers bei seinem Flug in den Himmel.
Er passierte Nischen, Schießscharten und Fenster bei seinem Anstieg und warf Seitenblicke hinaus, bei denen er wie ein Adler im Flug jedes Detail draußen im Lande erfasste. In seinem Lande, denn ein Blick genügte ihm, um zu erkennen, dass ihm Land und Leute, Vieh und Tiere untertan waren. Je höher er kam, desto steiler war sein Blick hinab und desto größer war das Gefühl seiner Machtfülle.
Die Macht wuchs mit jeder Stufe auf dem Weg nach oben. Sie erfüllte ihn, strömte in ihn wie der Atem in seine Lungen. Warum sollte er nur zwei Stufen auf einmal nehmen? Er nahm drei, ja sprang vier Stufen auf einmal hinauf, flog den höchsten Höhen regelrecht entgegen.
Oben! Er sah den Absatz, die letzte Stufe, hinter der sich das Firmament von einem Horizont zum anderen unendlich rundete. Beschwingt erreichte er sein Ziel und fand sich auf einem unbestellten Acker wieder, von dem aus er die Landschaft Reichsforsts erblicken konnte wie ein Gott. Es lag ihm zu Füßen, streckte sich unter seinem Blick, duckte sich unter seinen Fingern, zitterte vor seinem Tritt.
Tief atmete er den Geruch von Macht und Wärme ein, den Hauch von Gold und Blut. Er griff nach einem Kristallpokal und leerte ihn in einem Zug. Blutrot rann ihm das köstliche Gesöff aus den Mundwinkel, unachtsam wischte er mit dem Ärmel über sein Kinn und verteilte das Nass über sein Gesicht, als hätte er wie ein Fuchs in seiner Beute gewildert oder wie eine Ratte im Kadaver.
Der Kristallpokal flog weit in die Tiefe, und er drehte sich jauchzend um sich selbst.
Er blickte in den hohen Spiegel und sah durch ihn hindurch weit über die Wälder.
Und noch eine Drehung.
Dann blickte ihn der Schwertmeister aus dem Spiegel entgegen.
Der hob die Braue und stand ohne Regung im Spiegel, wo Emmerans Ebenbild stehen müsste.
„Meister“, korrigierte Emmeran sich und fiel auf die Knie.
„Schon besser, Emmeran. Was tust du?“
„Ich …“ Emmeran überlegte kurz. „ich träume!“ Und da wusste er wieder, welchen Spiegel er vor sich hatte.
„Meister“, wiederholte Emmeran, „Ihr beehrt mich in meinen Traumgefilden?“
„Jawohl, denn ich bringe Nachricht und Kunde von ihm, der das Schicksal zerstört.“ Rudons Stimme grollte wie Donner über das Land. Und tatsächlich zuckten Blitze über den Hügeln im Westen und dunkle Wolken türmten sich auf. Emmeran blieb auf Knien und zitterte.
„Er?“
„Du hast einen Hader vom Zaun gebrochen, der missfällt.“
„Warum? Ich verstehe nicht – Uneinigkeit im Reichsforster Adel, Fehde zwischen den Knappen des Ritterkönigs, Opfer auf seinem Altar … was missfällt?“
„Dass du deine initiierte Familie und jene, die nicht die Wahrheit geschaut haben, aufs Spiel setzt und gegenüber eine Einigkeit erzeugst, die ungewollt ist.“
„Einigkeit? Aber im Gegenteil, es wird …“
„Du hast selbst Drego zu eindeutiger Stellungnahme gebracht. Du hast ihn selbständig handeln lassen und eine unmissverständliche Anweisung als Vasall erhalten. Du hast gehandelt, ohne zu planen.“
„Meister, alles wird geschehen, wie es Ihm gefallen wird, wartet es nur ab!“
„Das werde ich, aber du bist auf dich gestellt, Emmeran. Ich lasse dir die Deinen, aber ich sende dir keine Hilfe und keine Unterstützung. Siege und entzweie, sonst nichts …“
Der Spiegel füllte sich mit Wolken und wurde eins mit dem Gewitter über den Hügeln. Die Ackerfurchen auf der Höhe füllten sich mit dem Regenwasser und eitrige Pilze wucherten empor. Purpurn dräute das Firmament über Emmeran und warf ihn zu Boden. Er war allein, er zitterte und er hatte zahllose Stufen vor sich hinab zu sich selbst.