Geschichten:Die Tränen der Ruchins - Die Legende vom Tränenwasser
Es lebte einst ein wunderschönes Mädchen an den Hängen des Raschtulswalls, wo der dunkle Hangwald sich in die Täler ergießt, die zu den brennenden Bergen führen. Dieses Mädchen wurde von seinen Eltern "Lerche" gerufen, und wir kennen keinen anderen Namen. Es war von ebenem Wuchs, schlanker Gestalt und holdem Antlitz und besaß ein freundliches Wesen, das jeden sogleich für es einnahm. Die Eltern liebten ihre Tochter sehr, aber auch die Menschen am Hangwald liebten das Mädchen. Und auch mit den Tieren wurde das Mädchen schnell gut Freund.
Lerche liebte es, durch das Land zu streifen, mit den Tieren zu sprechen und die Blumen zu streicheln. Die Bäumen rauschten im Wind ein liebliches Lied für das Mädchen, und die Wasser des Murimel und des Fandol glucksten jauchzend, wenn es an ihre Ufer kam. Eines Tages stieg das Mädchen, das frisch zur Frau erblüht war, mit dem Zwitschern der Vögel hinauf in die Berge, noch über den Hangwald zum Steinwasser. Dort war das klarste Wasser und das schönste Blau unter der Sonne, und hier legte Lerche ihre Kleider ab und stieg in das Wasser. Fröhlich und flink schwomm sie durch das klare Nass und erfreute sich des Bergsees wie am ersten Tage der Schöpfung.
Und der See sah sie mit Wohlgefallen. Und die Wellen umspielten das Mädchen und kitzelten es. Und die Fische des Sees tanzten vor Freude über die Schönheit der Welt und weil Lerche zu ihnen gekommen war. Und weil ihre Freude so groß war über den schönsten Tag, sang Lerche laut und pries die Freiheit in der Natur, wie die Götter sie geschaffen hatten.
Lerche hatte nicht bemerkt, dass sie den ganzen Tag schon beobachtet worden war von einem Jüngling, der ihr an den Ufer des Sees gefolgt war. Dieser Jüngling war von anmutiger Gestalt und besaß ein offenes Gesicht. Er war gerade erst zum Mann herangewachsen und der ganze Stolz seines Vaters und seiner Mutter. Diese waren die Herrscher dieser Lande, die wir heute Ruchin nennen. Ihren Sohn hatten sie Holdwin genannt.
Holdwin erspähte die Freude Lerches beim Baden im See und verliebte sich in das schöne Mädchen. Er stieg herab an den See, warf seine Kleider ab und stieg ebenfalls in das Waser. Als Lerche seiner gewahr, erschrak sie zunächst, aber Holdwins Gesicht war ohne Arg und glühte vor Liebe. Da erfasste Lerche sogleich die heißeste Liebe zu diesem schönen Jüngling und gemeinsam spielten und tollten sie im Wasser, bis beide müde wurden und an das Ufer schwammen. Dort ruhten sie aus, und mit dem Anblick des schönen Mädchens schlief Holdwin ein. Als er erwachte, war er allein und das Mädchen, das er liebt, war fort.
Er wusste nicht, woher sie kam und wie sie hieß. Deshalb ging er an das Steinwasser und fragte den See: "Steinwasser! Sage mir, wer ist das Mädchen, das heute hier geschwommen ist!" Doch das Steinwasser antwortete nicht. Da rief der Jüngling abermals: "Steinwasser, schweige nicht! Sage mir, wer ist das Mädchen, das heute hier geschwommen ist!" Doch noch immer schwieg der See. Ganz still war er geworden und blank wie ein Spiegel. Da rief der Junge zum dritten Mal: "Steinwasser! Wisse, dass ich einst Herrscher sein werde über diese Berge und auch diesen See! Antworte mir sogleich: Wer ist das Mädchen, das heute hier geschwommen ist, denn ich liebe es! Wenn du stumm bleibst, werde ich dich am Tage, da ich meiner Mutter nachfolge, mit Felsteinen auffüllen lassen, als bis du nichts mehr bist als eine Geröllhalde!"
Da endlich regte sich das Steinwasser und bäumte sich tosend auf und holte sich den Jüngling mit einem wilden Strudel und zog ihn herab zum Grund.
Am nächsten Tage kam Lerche erneut an das Steinwasser und hoffte, den Jüngling, zu dem sie in Liebe entbrannt war, wieder zu treffen. Doch kam jener nicht, und am Tage darauf auch nicht. Am dritten Tage schließlich ging Lerche auf den steinernen Steg und stellte sich an dessen Spitze und fragte sie den See: "Lieber See, sage mir doch: Wo ist mein Freund, den ich herzlich liebe und so vermisse?" Und der See begriff, dass er einen großen Fehler begangen hatte, den er nicht wieder gut machen konnte. Und er klarte sein Wasser noch weiter auf und zeigte dem Mädchen das Gesicht Holdwins auf dem Grund des Sees.
Da ergriff große Trauer das Herz des Mädchens, und Lerche begann zu weinen und weinte den ganzen Tag. Sie weinte auch die ganze Nacht und die folgenden Tage. Die Tränen fielen von ihren holden Wangen auf den Steg und rannen von dem Steg in das Wasser. Sie weinte so lange, bis dass der See salzig wurde und sein Wasser trübe von den Tränen.
Da aber erhob sich nach Wochen der Gesang einer Nachtigall – so lieblich und so schön, dass des Mädchens Schmerz gelindert ward, solange die linden Tön erklangen. Das geschah siebenmal: Jeden Abend legte sich der Nachtigall Gesang über das Steinwasser und auf die Seele des Mädchens Lerche und siebenmal wirkte er wie Medizin für deren gebrochenes Herz.
Am siebenten Abend weinte Lerche noch sechzehn Tränen. Doch diese fing sie in ihrem Tuch auf und ließ sie nicht in das salzige Wasser fallen. Und siehe da: Als sie am morgen erwachte und aufbrach, um den See zu verlassen, da waren aus den Tränen lautere Perlen geworden. Lerche steig herab aus dem Wall und wanderte durch das schöne Land, und die Blumen neigten sich und die Bäume grüßten sie und die Tiere riefen ihr zu. Und so kam sie zu den Eltern ihres Geliebten Holdwin und offenbarte sich ihnen.
Da nahmen sie das Mädchen an an ihr Sohns statt und kränzten sie zu ihrer Erbin. Und als im Jahr darauf sie mit Zwillinge niederkam, da dankten sie den Göttern, dass sie zwar einen Sohn verloren, doch eine Tochter und zwei Enkel gewonnen hatten. Und sie lauschten auch den Geschichten von Lerche und lernten daraus. Sie lernten, dass ihrem Sohn die Herrschsucht zum Verhängnis geworden ward und sein Irrtum, den See zwingen zu wollen. Und sie legten ihre Herrschaft schließlich in Lerches Hände.
Und Lerche wurde zur Herrin von Ruchin. Und aus den Perlen ihrer Tränen fügte sie die Krone ihre Landes und als ihre Zeit gekommen war, da kränzte sie ihre Erbin am Steinwasser mit eben dieser Krone und von da an führte der See den Namen Tränenwasser und das Haus Ruchin die Nachtigall im Wappen. Und die neuen Herrscher des Landes kommen hierher, auf den Steg in das Tränenwasser und empfangen hier die Insignien ihrer Herrschaft. Und so wird es sein bis ans Ende aller Tage.
getreulich aufgeschrieben von Landfried Tintensetzer
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