Geschichten:Die dunkle Seite
Eine illustre Gesellschaft hatte sich in Alt-Gareth in der Stadtvilla eines alteingesessenen Adelsgeschlechts zusammengefunden. Anlass hierfür war das Gedenken an die Schlacht auf dem Mythraelsfeld respektive die Zerstörung Wehrheims vor nahezu genau zehn Götterläufen. Das Wiedersehen von Absolventen der ebenfalls der Vernichtung anheimgefallenen fast schon legendären Akademie für Strategie und Taktik im einstigen stählernen Herz des Reiches war dabei mehr als nur ein angenehmer Nebeneffekt für die Anwesenden.
Daher hatten sich eine Vielzahl von Adligen, in der Masse Angehörige des Halschen Neuadels, sowie aktive wie ehemalige Offiziere in dem Haus eingefunden, um gleichermaßen die eher bescheidene aktuelle Lage des Reiches zu erörtern und des Glanzes früherer Zeiten zu gedenken. Nach einem Bankett und einer Gedenkfeier für das vor zehn Jahren Verlorene bildeten sich in der Villa und deren Park kleinere Gesprächsgruppen, um über allerlei Dinge, die nicht für jedes Ohr bestimmt waren, zu diskutieren. Eines der Gespräche fand in einem Gästezimmer im ersten Stock unter vier Augen statt und entwickelte sich ganz anders als von einem der Gäste erwartet ...
"Es war schön, viele einstige Weggefährten und Kameraden hier wiederzusehen, alter Freund. Beim Gedenken an die Toten und das zerstörte Wehrheim wurde mir jedoch ganz weh ums Herz. Nicht nur aus nostalgischen Gründen sondern auch mit Blick auf das von Rohaja und ihrer Mutter heruntergewirtschaftete Reich. Guter Wille mag beiden ja zu eigen sein oder war es zumindest, aber gute Absichten ersetzen halt leider nicht fehlende Kompetenz."
"Wohl wahr, wohl wahr", pflichtete der andere Mann seinem Gesprächspartner bei. "Wenn ich da an unsere gemeinsame Zeit in Wehrheim vor so vielen Jahren denke: der Marschall hätte es niemals geduldet, dass jemand nur aufgrund seines hochgeborenen Arsches - nichts für ungut, mein Lieber - auch nur das Kommando über eine Lanze, von größeren Verbänden ganz zu schweigen, erhalten hätte."
"Ja, da hast Du vollkommen recht. Man mag von Haffax derzeit halten was man will, aber er verstand mehr von Truppenführung, Strategie und Taktik als fast alle, die nach ihm kamen, zusammen."
Eine gute Stunde ergingen sich beide Männer in Erinnerungen an bessere Zeiten, die lange zurücklagen, der aktuellen Unfähigkeit des Reiches und seiner Lenker und dem außerordentlichen Format des früheren Reichserzmarschalls. Dann beendete einer der beiden Diskutanten das Vorfeldgeplänkel und ging zum offenen Angriff über.
"Nun, die alten Zeiten könnten wieder aufleben! Eine Zeit, in der wieder einzig und allein Leistung und Verdienst zählen und das Reich zu seiner alten Stärke zurückfindet. Geführt von einem Mann, der in der Lage ist, dies alles herbeizuführen und das morsche Gebälk des Reiches Rauls des Großen zu erneuern. Ich war vorhin nicht ganz aufrichtig zu Dir. Ich stehe mitnichten in Diensten des koscher Fürsten sondern diene im persönlichen Stab des Mannes, der als einziger das Reich zu retten in der Lage ist: dem Marschall!"
Die letzten Sätze, rhetorisch gekonnt vorgetragen, verfehlten ihre Wirkung beim anderen Offizier nicht. Erst Unglauben, dann Zustimmung und dann Überraschung zeigten sich in rascher Folge auf dessen Antlitz.
"Mut hast Du, das muss ich Dir lassen. Hierher zu kommen, um mir letztlich diese Kunde mitzuteilen ist an Tollkühnheit wohl kaum zu überbieten. Aber auch wenn wir, was das Reich und die Subjekte an seiner Spitze angeht, einer Meinung sind, ist das hier doch nichts anderes als Verrat. Von dem ganzen Dämonenzeugs und der Paktiererei ganz zu schweigen!"
"Wie kann man jemanden verraten, der das, wofür sie früher einmal standen, längst selbst zu Grabe getragen und dem Vergessen hat anheimfallen lassen? Wofür steht denn das Reich heute? Schwäche, Korruptheit, Verschwendung und kleinlicher Hader!" Und was Dämonen und Pakte mit ihnen angeht, so sind sie für den Marschall lediglich Mittel zum Zweck, simple Werkzeuge, die man benutzt, wenn es geboten erscheint und danach wieder beiseitelegt. Haffax will kein Dämonenreich, keine Niederhöllen auf Erden und auch keine Zerstörung des Reiches, dem wir beide einst dienten; er will es wieder zu alter Größe zurückführen!" Mit einem Lächeln fuhr er in nun lakonischem Tonfall fort: "Und dazu will er Dich an seiner Seite."
"WAS will er?" Der Angesprochene verschluckte sich beinahe an seinem Wein, während er versuchte, das soeben Gesagte zu verdauen.
"Du hast richtig gehört, mein Bester. Und er gab mir dieses Handschreiben für Dich mit. Die markante Handschrift seiner Exzellenz wirst Du ja noch kennen. Ach ja: zu Deiner eigenen Sicherheit solltest Du es später entweder verbrennen oder an einem absolut sicheren Ort verwahren."
Der Adressat nahm den versiegelten Umschlag ungläubig entgegen und drehte ihn für einen Moment gedankenverloren hin und her. Noch bevor er zu einer Entgegnung ansetzen konnte, fuhr des Marschalls Abgesandter breit grinsend fort.
"Natürlich wirst Du erst mal ein wenig Zeit benötigen, um das eben Gesagte auf Dich wirken lassen und den Brief in aller Ruhe lesen zu können. Ich würde vorschlagen, wir treffen uns in zwei Tagen zur Praiosstunde vor dem Seelander wieder, einverstanden?"
Sein Gegenüber hatte die Fassung zumindest einigermaßen wiedergewonnen und erwiderte mit leicht belegter Stimme: "Und woher willst Du wissen, dass ich Dich nicht hintergehe und den hiesigen Autoritäten ausliefere?"
"Mal abgesehen davon, dass ich es bedauerlich fände, wenn ich Dich falsch eingeschätzt hätte, kennst Du doch den vierten Lehrsatz unserer Akademie: 'Berücksichtige bei Deinen Planungen stets die Möglichkeit des Scheiterns und sorge entsprechend vor'. Ich habe das nicht vergessen. So, jetzt entschuldige mich aber bitte, ich möchte mir noch eine Portion dieses köstlichen Bratens gönnen, bevor ich mich zurückziehe. Gute Nacht!"
Eine solche war dem anderen Mann nicht vergönnt. Unruhig wälzte er sich in seinem Bett hin und her, dabei immer wieder über die unerwartete abendliche Unterhaltung sinnierend. Bemerkenswerterweise verschwand der Gedanke, seinen alten Freund zu melden, schon recht bald aus seinem Kopf ...
Erst am folgenden Morgen brachte es der Adressat des Briefes über sich, diesen zu lesen. Überrascht stellte er fest, dass sich Haffax erstaunlicherweise genau mit seinem abwechslungsreichen militärischen Werdegang beschäftigt hatte und sich sogar noch daran erinnerte, dass er dem Marschall vor vielen Jahren für einige Monde als persönlicher Adjutant gedient hatte. Die im Brief festgehaltenen Analysen waren zudem von einer bemerkenswerten Klarheit und Scharfsicht und mehr als einmal musste der Leser bei der Lektüre unbewusst zustimmend nicken.
Die letzten Zeilen des Briefes ließen dessen Empfänger jedoch schlucken. Hierbei ging es um die ihm im Falle eines Überlaufens zugedachte Rolle, welche anscheinend von zentraler wenn nicht gar entscheidender Bedeutung für Haffax Pläne in der näheren Zukunft war.
Die nächste Nacht verlief für den Offizier ebenso unruhig wie die vorherige. Doch diesmal ging es nicht darum, das Mitgeteilte zu begreifen und eventuell zu melden, sondern darum, alle Brücken hinter sich abzubrechen und sein Leben und Tun der letzten gut zwanzig Götterläufe mit praktisch einem einzigen Federstrich fortzuwerfen. War Haffax Werben diesen hohen Preis wirklich wert?
Zur Mittagsstunde des Folgetages suchte ein sichtlich übermüdeter Mann den vereinbarten Treffpunkt auf, erblickte seinen alten Kameraden und hielt zielstrebig auf ihn zu.
"Ihr habt mich", flüsterte er lapidar. "Allerdings werde ich mich weder mit Dämonen einlassen noch irgendwelche Schlächtereien billigen oder gar anordnen, verstanden?"
"Natürlich", erwiderte der Angesprochene ruhig, "nichts anderes wird von Dir erwartet und wäre auch nicht im Sinne seiner Exzellenz."
"Gut, dann wäre nun alles geklärt. Ich reise morgen ab. Wo Du mich danach findest, weist Du sicherlich, denn wie ich Dich kenne, hast Du Deine Hausaufgaben wie immer gründlich gemacht."
Ein breites Grinsen und knappes Nicken waren die Antwort.
In der Folgenacht verbrannte der Veteran der Reichsarmee mit dem Brief auch sein bisheriges Leben.