Geschichten:Die liebe Familie ...
Die Konzentration auf seine Arbeit als Regimentskommandeur fiel Ugdalf von Pandlarilsforst und von Hauberach zunehmend schwerer. Selbst sein Stab begann sich über das mehr und mehr fahrige und dünnhäutige Verhalten des Befehligers zu wundern. Der Oberst hingegen registrierte all dies nicht, zu sehr war er mit seinen Gedanken bei seiner Halbschwester Elissa und dem Umstand, dass sie sich offenkundig immer noch bester Gesundheit zu erfreuen schien. Mit welchem Recht bloß?
"Ich verstehe es nicht," brach es bei einem gemeinsamen Mittagessen mit seiner Mutter Fredegard aus Ugdalf heraus, "unser Gewährsmann hat angeblich die unserem Herrn heiligen Pilze wie von Dir angeordnet immer wieder in kleinen Mengen in das Essen dieser Metze gemischt und alles, was mir seitdem zu Ohren kam, besagt lediglich, dass sie 'ein wenig sonderlich' geworden sei - und auch das nur als so vages Gerücht, dass der Markgraf deswegen wohl kaum handeln wird, falls er von dem Gerede bisher überhaupt gehört hat. Vielleicht sollte ich demnächst selbst nach Burg Mallvenstein reisen und-"
"-alles aufs Spiel setzen, was wir bisher erreicht und vorbereitet haben. Nein!", unterbrach Fredegard ihren Sohn recht rüde.
"Ich werde doch nicht einfach so dorthin reiten, sondern mir eine gute Ausrede ausdenken! Immerhin habe ich dort ein Gut, bei dem ich ab und an mal nach dem Rechten sehen muss und dabei natürlich auch der werten Frau Baronin" - der Oberst spie die letzten Worte geradezu aus - "aus gebotener Höflichkeit meine Aufwartung machen werde." Dann-"
"Du hörst immer noch nicht zu", unterbrach ihn seine Mutter erneut, nun deutlich schärfer.
"Wenn auch nur der kleinste, leiseste Verdacht - egal, wie weit er auch hergeholt sein mag - aufkommt, dass Du mit dem zunehmenden Wahnsinn dieses Miststücks etwas zu tun hast, erregt das ganz sicher die Aufmerksamkeit des Paligan. Der Kerl mag vieles sein, aber leider kein Idiot. Glaubst Du, er wird nicht ins Grübeln kommen, wenn Du 'rein zufällig' nach Vellberg reist, dort 'rein zufällig' den verrückt gewordenen Bastard antriffst und dies nach Deiner umgehenden Rückkehr dem Markgrafen sofort als 'guter Vasall' mitteilst? Und dann bittest Du ihn als Krönung des Ganzen womöglich auch noch darum, dass Du als Verwalter für die Baronie eingesetzt wirst. Glaubst Du, er hat vergessen, dass er Dir damals das Lehen zugunsten dieser Metze entzogen hat? Glaubst Du, er ahnt nicht zumindest, dass Du spätestens seitdem einen tiefen Groll gegen das Mädchen hegst? Und trotz alledem soll er einfach so Dich dann mit der Herrschaft dort betrauen? Nochmal: Unterschätze nicht Deine Gegner! Gehe immer davon aus, dass sie mindestens ebenso fähig, klug, gerissen - was auch immer - sind, wie Du selbst."
Für einen kurzen Moment musste Fredegard schmunzeln. "Eigentlich sollte das für einen Offizier eine Binsenweisheit sein; dachte ich zumindest."
Ugdalf bedachte seine Mutter mit einem leicht säuerlichen Blick.
"Schon gut, ich habe verstanden. Und nun? Seit mehreren Monden, seit Anfang Rondra, bekommt die Schlampe diese 'besondere Zutat' über ihr Essen. Wenn alles so funktioniert, wie geplant, Mutter, dann müsste das Miststück doch längst schon so wahnsinnig geworden sein, dass es selbst Boron schauderte. Und das soll auf der Burg niemandem auffallen? Und niemand, nicht einmal dieser vertrocknete Tintenkleckser Norholt, sendet eine entsprechende Nachricht zum Markgrafen? Das erscheint mir doch sehr unwahrscheinlich."
"Hm, das ist in der Tat seltsam", musste Fredegard einräumen. "Ich werde eine Glaubensschwester darum bitten, als Händlerin getarnt übermorgen in unsere Baronie zu reisen und dort unauffällig Augen und Ohren offenzuhalten. Sie hat Erfahrung mit so etwas, wenn Dich das beruhigt. So kannst Du Deine Neugier befriedigen, ohne Dich selbst deswegen aus der Deckung wagen und somit angreifbar machen zu müssen. Die Diskreditierung des Gemahls dieser Metze, dieses Sequims, werde ich erst einmal zurückstellen. Es macht derzeit wenig Sinn, ihn gegenüber dem Paligan als unfähig darzustellen, wenn wir noch kein klares Bild unser eigentliches Ziel betreffend haben.
Ach noch etwas, mein Sohn: Reiß´ Dich mehr zusammen. Man beginnt bereits über Deine ständige Gereiztheit zu tuscheln. So etwas sorgt immer für Argwohn und Gerüchte, die eher früher als später an die falschen Ohren gelangen."
"Woher weißt Du, das-"
"Weil ich meine Augen und Ohren möglichst überall habe. Wissen ist schließlich Macht, mein Junge!"
Der Angesprochene nickte nur stumm, bevor er rekapitulierte: "Gut, warten wir also ab. Wenn unsere Schwester im Glauben wirklich so gut ist, wie Du sagst, werden wir in spätestens anderthalb Wochen endlich wissen, woran wir sind. Ach ja: Essen wir morgen wieder gemeinsam zu Mittag?"
"Warum nicht? Dabei können wir auch noch über andere Punkte sprechen, derer wir uns demnächst in dieser Stadt annehmen sollten.
Selinde fühlte sich nach der ersten durchschlafenen Nacht seit langem nun deutlich besser. Zu ihrer eigenen Überraschung war sie erst am späten Vormittag erwacht und als die Baroness das Hotel verließ, war es schon Mittag. Um nicht noch mehr Zeit zu verlieren, begab sich die Adlige direkt in die Kaserne des Bombardenregiments, wo sie ihren Bruder anzutreffen hoffte. Vielleicht konnte man ja bei einem gemeinsamen Mittagessen die jüngsten Entwicklungen und das weitere Vorgehen in der nötigen Ruhe besprechen, ging es der Baroness durch den Kopf - sofern ihrem Bruder überhaupt daran gelegen war, ergänzte sie recht verdrießlich im Geiste.
Die Adlige traf ihren Bruder tatsächlich in seinem Arbeitszimmer beim Essen an - und nicht nur ihn.
"Mutter, wie schön, Dich hier zu sehen!", begrüßte Selinde diese ebenso freudig wie überrascht. "Was hat Dich denn hierher verschlagen?"
Die Angesprochene, wie auch deren Sohn, waren für einen kurzen Moment ebenfalls sichtlich überrascht, Selinde hier zu sehen. Fredegard begrüßte ihre Tochter mit einem Kuss auf die rechte Wange und einer leichten Umarmung - eine außerordentlich herzliche Geste für die sonst so kühl und beherrscht auftretende Frau, während der Oberst sie mit einem erfreuten Lächeln bat, auf einem freien Stuhl Platz zu nehmen.
"Ugdalf und ich haben uns zum Mittagessen verabredet und wollten gleich in die Stadt gehen. Schließ´ Dich uns doch einfach an; wir haben sicherlich Vieles, über das wir reden können, zumal wir drei schon lange nicht mehr gemeinsam etwas unternommen haben." Beim letzten Satz warf die alte Dame ihrem Sohn einen eigentümlichen Blick zu, der die Baroness kurzzeitig irritierte.
"Eine gute Idee! Ich habe heute noch nichts gegessen und bin entsprechend hungrig. Außerdem, nun ja, bin ich unter anderem hierhergekommen, weil sich jüngst eine Veränderung ergeben hat, über die ich euch in Kenntnis setzen möchte und zu der ich auch euren Rat brauche.", schloss Selinde mit leicht belegter Stimme.
"Na, das klingt ja spannend, warf Ugdalf ein. Dann auf, wir wollten ins Kaiser Reto."
"Witzig, von da komme ich gerade, ich logiere dort."
Im Hotel angekommen, steuerte Selinde nicht einen der freien Tische an, sondern begab sich direkt über die Treppe zu ihrem Zimmer, ihre beiden leicht irritiert dreinschauenden Verwandten im Schlepptau. Nachdem sie dort alle Platz genommen hatten und insbesondere Ugdalf seine Neugier kaum mehr weiter im Zaum halten zu können schien, ergriff seine Schwester das Wort.
"Ihr wundert euch wahrscheinlich über die Geheimniskrämerei, aber worüber ich euch jetzt berichten werde, ist nicht für fremde Ohren bestimmt, denn es ist eine Familienangelegenheit und eine äußerst delikate noch dazu."
Und dann erzählte Selinde: Von Norholts Brief, ihrem daraufhin erfolgten Aufenthalt auf Burg Mallvenstein, die Reise mit ihrer Halbschwester nach Perricum sowie den vielen Gedanken, die der Baroness deswegen durch den Kopf gingen.
"Kurzum: Bisher konnte ich es gemeinsam mit Vogt Norholt vermeiden, dass irgendwas von alledem nach außen drang. Das aber wird vermutlich nur noch eine Frage der Zeit sein, denn eine Besserung von Elissas Zustand, dessen Ursache mir und Norholt immer noch ein Rätsel ist, scheint zumindest in nächster Zeit nicht zu erwarten. Morgen werde ich um eine Audienz bei seiner Erlaucht ersuchen und ihn über alles in Kenntnis setzen. Dann ist es an ihm, zu entscheiden, wie es mit meiner Schwester und Vellberg weitergeht."
Ugdalf hatte den Worten Selindes mit zunehmender Fassungslosigkeit und Wut gelauscht, wobei sich sein Gesicht mehr und mehr in eine puterrote, von Haß zerfressene Maske verwandelte.
"Das Ding ist nicht Deine Schwester! Vergiss´ dies niemals! Wie kannst Du Dich auch nur einen Moment um das Wohlergehen dieser Erbschleicherin sorgen? Sie hat mit Hilfe des Herrn der Götter bekommen, was sie verd-"
"Es reicht!", fuhr Fredegard ihrem Sohn mit gebieterischer Stimme über den Mund, "Du vergisst Dich!"
Dieser erstarrte regelrecht, doch der Blick, den er Selinde zuwarf, ließ diese unwillkürlich frösteln, wie schon sein Ausbruch zuvor sie unbewusst hatte zurückzucken lassen.
"Ugdalf", begann sie versöhnlich, "beruhige Dich doch. Ich weiß, dass Du Elissa-"
Erneut übermannte der Zorn den Obersten: "Nenn in meiner Gegenwart nicht ihren Namen, sonst-, äh, sie gehört nicht zu uns und wird es niemals! Und offenkundig scheinst Du Dich nun mehr um sie als um Deine Familie zu sorgen, was-"
Fredegard legte ihre linke Hand auf die ihres Sohnes und flüsterte ihm etwas ins Ohr, ein Verhalten, dass dessen Schwester sichtlich irritierte. Was gab es in dieser Angelegenheit denn zu flüstern? Doch was es auch gewesen sein mochte, Ugdalf beruhigte sich beinahe schlagartig, dabei einen kurzen, aus Sicht Selindes beinahe ängstlichen, Blick auf ihrer beider Mutter werfend.
Diese hatte bis dahin ruhig und beherrscht gewirkt, lediglich ein kurzes Zucken um den rechten Mundwinkel deutete auf ihre innere Anspannung hin.
"Wir sollten uns nun erst einmal beruhigen und das tun, wofür hier hierhergekommen sind, nämlich gemeinsam, als Familie, zu Mittag essen. Alles andere besprechen wir dann in Ruhe morgen Abend, meine Kinder. Den Markgrafen kannst Du danach immer noch informieren, Selinde."
Die Angesprochene nickte nur kurz zustimmend, immer noch merklich verwundert, ja fassungslos über das Verhalten ihres Bruders. Sie hatte ja damit gerechnet, dass er ob Elissas Schicksal nun nicht gerade in Tränen ausbräche. Aber das ...?
Fredegard erhob sich und gab damit das Zeichen zum Aufbruch. Auf der Treppe nach unten drehte sie sich zu ihrer Tochter um und fragte diese beiläufig: "Ach, ehe ich es vergesse, wo ist sie denn derzeit untergebracht? Ich hoffe an einem für sie sicheren Ort, wo man auch die nötige Diskretion zu wahren weiß."
"Ja Mutter, keine Sorge. Die Diener des Herrn Boron kümmern sich um sie. Und wie Du weißt, interessieren die sich auch nicht sonderlich für irgendwelche Titel oder gar Geschwätz. Wieso fragst Du?"
"Nur so. Ich will lediglich sichergehen, dass sie gut versorgt ist. Bastard oder nicht, sie ist schließlich die anerkannte Tochter Eures Vaters."