Geschichten:Dornentriebe - Ein Ende und ein neuer Anfang
Gut ein Monat war seit der Erstürmung des Gutshofes, der den mehr oder weniger unwissenden Dienern Belkelels als Treffpunkt für ihr rahjafrevlerisches Treiben gedient hatte, vergangen.
Ein Monat, den Selinde von Löwenhaupt-Berg als 'Gast' - eine freundliche Umschreibung für das Wort 'Gefangene' - in der markgräflichen Residenz verbracht hatte und dabei allerlei Befragungen seitens Vertretern der weltlichen Autorität sowie der Kirche des Götterfürsten über sich ergehen hatte lassen müssen. Die einstmals so stolze, lebensfrohe und selbstbewusste Frau war nicht mehr wiederzuerkennen; sie war ob der jüngsten Entwicklungen und Erkenntnisse ganz und gar gebrochen und am Boden zerstört, ohne dass es dazu der Mühen ihrer Befrager bedurft hätte. Selinde wusste selbst am besten, welch´ enorme Schuld sie durch eigene Dummheit, Naivität und Zaudern auf sich geladen hatte. Klaglos hatte sie die vielen und oftmals wiederkehrenden Fragen nach bestem Wissen und Gewissen beantwortet. Ein Tag war für die Baronesse wie der andere und sie wünschte sich nur noch, endlich zu erfahren, welche Strafe man ihr aufzuerlegen gedächte, wobei ihr diese an sich letztlich egal war, solange sie nur Gewissheit erhielte.
Beendet wurden Ungewissheit und Monotonie eines Morgens, als man Selinde nach dem Wecken knapp mitteilte, dass sie diesen Mittag in die Obhut ihres Vaters entlassen werden würde. Eine Vielzahl von Gefühlen schoss durch ihren Kopf: Überraschung, Erleichterung - aber auch Furcht. Wie mochte Wallbrord, der seine Tochter in der ganzen Zeit nie besucht hatte, sie aufnehmen?
Zur Mittagsstunde wurde die Zimmertüre geöffnet und die Vellbergerin auf Ehrenwort hin ihrem Vater überantwortet. Dieser musterte seine Tochter, die es vermied, ihm in die Augen zu sehen, kurz mit einer Mischung aus Enttäuschung, Verachtung aber auch Bedauern. Ohne Selinde auch nur eines Wortes zu würdigen, wandte er sich an zwei nahebei stehende Bewaffnete:
"Eskortiert meine Tochter nach Burg Mallvenstein und sorgt für ihre angemessene Unterbringung. Ich selbst werde in drei Tagen nachkommen und mich dann um alles weitere persönlich kümmern." Kaum hatte er den Satz beendet, wandte er sich zum Gehen und verließ die Residenz, die sichtlich getroffene Selinde nicht weiter beachtend.
Später, einen Tag nachdem auch Wallbrord auf Mallvenstein eingetroffen war, bestellte er seine Tochter des Abends in sein Arbeitszimmer. Die Baronesse fühlte sich auf der heimatlichen Burg kaum besser als in der 'Obhut' des Markgrafen, was auch daran lag, dass alle übrigen Familienmitglieder nicht auf der Feste weilten.
Zur genannten Zeit klopfte sie an die Tür und nahm, nachdem sie hereingerufen worden war, gegenüber von ihrem Vater an dessen Schreibtisch Platz. Der Baron schien seine Erbin nicht zu beachten, sondern schrieb weiter an mehreren Depeschen, die er an wen auch immer zu versenden gedachte. Selinde war sich nur allzu bewusst, dass auch dies eine gezielte Demütigung Wallbrords war. Schließlich hielt sie die Anspannung nicht mehr aus und fragte:
"Du hast mich zu Dir gerufen, Vater?"
Der Angesprochene siegelte noch einen Brief und antwortete einige endlos erscheinende Augenblicke später mit steinerner Miene sowie geschäftsmäßig wirkender Stimme:
"Ja. Ich möchte Dir mitteilen, wie es mit Dir weitergehen wird. Über das, was Du in Deiner Dummheit und Naivität getan hast, will ich gar nicht erst anfangen zu diskutieren. Nur dies: Wärst Du nicht meine Tochter und trügest Du nicht meinen Namen und den meiner erlauchten Vorfahren, so hätte ich Dich ohne weiteres Deinem Schicksal - Kerker oder Schafott - überlassen oder selbst für eine angemessene Bestrafung gesorgt. Da ich aber unmöglich zulassen konnte, dass ein allgemeines Bekanntwerden Deines Treibens und eine Verurteilung durch ein markgräfliches oder kirchliches Gericht den Namen unseres Hauses beschmutzte, habe ich allerlei Gefallen eingefordert und versprochen sowie viele Hinterteile geküsst, um einen solchen Skandal zu vermeiden, an dem, den Zwölfen sei Dank, auch weder der Markgraf noch seine Großmutter ein Interesse haben. Dennoch: Du bist eine einzige Enttäuschung für mich."
Der letzte Satz ließ Selinde, die ansonsten sehr gefasst wirkte, kurz zusammenzucken, während ihr Vater fortfuhr.
"Sei es, wie es sei. Du wirst Dich in der Nacht zum 1. Efferd auf eine Bußqueste in einfachster Kleidung und ohne Geld in die Stadt des Lichts begeben. Dort wirst Du vier Monde verbleiben, in denen Du hoffentlich geläutert werden und zugleich auch Demut lernen wirst, indem Du für die Diener des Herrn Praios als Magd allerlei niederste Arbeiten verrichtest. Und damit Du nach Deiner Rückkehr nicht wieder auf ebenso dumme wie gefährliche Gedanken kommst, habe ich für den 20. Ingerimm Deine Ehe mit Timshal von Zackenberg, dem Erben der gleichnamigen Baronie, arrangiert, was, wie Du Dir sicher denken kannst, alles andere als einfach war. Eine angemessene Eheschließung ist jedoch schon lange überfällig. Außerdem wirst Du die Stadt Perricum die nächsten drei Götterläufe außer zu besonderen offiziellen Anlässen nicht betreten, wie Du auch sonst Zackenberg für den gleichen Zeitraum nicht zu verlassen hast, sofern dies nicht mit ausdrücklicher Erlaubnis des Markgrafen oder seiner Mutter geschieht. Ist das soweit verstanden?"
"Ja, Vater." entgegnete die Angesprochene knapp. Noch vor zwei Monden hätte sie Hochzeitspläne - noch dazu mit einem Mann, den sie nur flüchtig kannte - entrüstet zurückgewiesen, hier und jetzt aber wusste sie, dass sie nicht nur keine Wahl mehr hatte, sondern froh sein musste, von weitaus ernsteren Konsequenzen verschont geblieben zu sein.
"Eines noch, Selinde. Dir ist sicherlich klar, dass ich Dich ob der jüngsten Geschehnisse unmöglich weiter als meine Erbin und Nachfolgerin auf dem Baronsstuhl betrachten und anerkennen kann. Meinen Namen magst Du zur Vermeidung eines Skandals weiterführen, aber von der Erbfolge bist Du ab sofort ausgeschlossen. Auch das Gut Rotbach wird Dir nach der Hochzeit entzogen und stattdessen Deiner Halbschwester Elissa übertragen werden."
Diese letzte Ankündigung ließ einen Ruck durch die Adlige gehen. Für einen kurzen Moment war sie versucht, dagegen zu protestieren, sah aber rasch ein, dass die Entscheidung ihres Vaters letztlich nur folgerichtig war, so bitter ihr dies auch schmecken mochte.
"Ich verstehe, Vater." sprach sie mit leiser Stimme, "Mir ist klar, dass ich mit meinen Taten jedes Anrecht auf den Baronsreif verloren habe. Ich möchte Dich lediglich bitten, mir zu gestatten, den Verzicht auf Erbe und Titel nach meinem Traviabund selbst verkünden zu dürfen, um weiteres Gerede zu vermeiden. Als Begründung kann man angeben, dass ich mich völlig auf das Leben an der Seite meines Gatten und die Vorbereitung auf meine Pflichten als angehende Baronsgemahlin konzentrieren möchte. Wird mir zumindest gestattet werden, dem Traviabund meines Bruders beizuwohnen?"
Wallbrord schwieg für einen Augenblick und schaute dabei seine gefallene Tochter fast schon mitleidsvoll an, bevor sich seine Gesichtszüge wieder verhärteten und er knapp antwortete:
"Gut, dann soll es so sein; auch, was Deine - möglichst kurz zu haltende - Anwesenheit bei der Eheschließung angeht. Solche Scharaden sind mir zwar eigentlich zuwider, aber alles andere wäre für unsere Familie noch schlimmer. Damit wäre nun alles gesagt; Du kannst gehen."
Mit einem kurzen Nicken verabschiedete sich eine aschfahle und zutiefst erschütterte Selinde von ihrem Vater und begab sich fast schon schleppenden Schrittes in ihre Kammer.
Wallbrord hingegen verschloss die Tür zu seinem Arbeitszimmer und entschied sich dafür, etwas zu tun, was er seit seiner Kadettenzeit nicht mehr getan hatte: sich völlig zu betrinken und so seinen Schmerz, seine Traurigkeit und seinen Ärger über das Gespräch mit seiner einstigen Erbin, die doch immer noch seine Tochter war, zumindest für eine Weile zu vergessen.