Geschichten:Drei Krähen und ein Räblein – Das, was war

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Fürstentum Kosch, Baronie Birnbrosch, 24. Rahja 1041

Das Madamal stand hoch am Horizont. Glomm in blutrotem Licht. Schnee fiel. Dicke weiße Flocken. Sie fror. Wollte ihre Kleider enger um sich ziehen. Doch sie trug nur eine dünnes Hemd aus schwarzer durchscheinender Seide. Sonst nichts. Überhaupts nichts. Nicht einmal Schuhe. Mit den nackten Füßen stand sie im knöcheltiefen Schnee und fror. Fror erbärmlich.

Plötzlich begann die Erde unter ihren Füßen zu erzittern, regelrecht zu beben. Sie wandte sich um: Ein Schneesturm bewegte sich direkt auf sie zu. Doch es war kein gewöhnlicher Schneesturm: Während die Flocken geradezu neckisch im Licht des Madamals glitzerten drang das Klirren von Metall auf Metall aus ihm heraus, das Wiehern und Schnauben von Pferden, deren beschlagene Hufe, die im Galopp über den Boden getrieben wurden. Viele beschlagenen Hufe. Sehr viele.

Ansonsten war es still.
Die Ruhe vor dem Sturm.
Und dann erkannte sie die ersten Reiter...

„STÜRMEN!“, dröhnte es über sie hinweg.

Und Ailsa lief. Sie lief so schnell sie konnte. Lief vor den Reitern davon. Doch die Reiter kamen immer näher. Sie sah sie nicht. Doch sie konnte sie spüren. Das Beben der Erde unter ihren nackten Füßen. Dann preschte ein Reiter in voller Rüstung zu ihrer Rechten an ihr vorbei. Sein Blick fest nach vorne gerichtet. Dann einer zu ihrer Linken. Weitere folgten. Bald darauf blieb Ailsa atemlos stehen. Ihre Lunge brannte. Noch immer preschten Reiter an ihr vorbei. Ganz nahe, unglaublich nahe, doch nicht ein Einziger streifte sie. Dann erkannte sie das Wappen - die Fürstlichen Schlachtreiter. Und ohnmächtig musste sie zusehen, wie sie über die schmale Brücke in das Flusskastell eintritten.

„Nein!“, brüllte sie und versucht trotz der tausenden kleine Nadeln, die die Kälte unablässig in ihre Brust stach, dem Strom der Reiter zu folgen, „Nein! Das ist ein Falle! Eine Falle! Hört auf! Zieh euch zurück! Zurück! Solange ihr noch kön...“

Und noch im selben Augenblick schlossen sich die Tore. Schlachtrösser mit ihren Reitern prallten im vollen Galopp dagegen. Die Tiere hatten noch versucht das unvermeidliche abzuwenden, versuchten auf die Hinterhand zu steigen. Doch es war zu spät. Mit einem dumpfen Schlag schmetterte es sie gegen die dicken Bohlen. Herzzerreißendes Wiehern übertönte jedes Kampfgeschrei. Einen Augenblick herrschte blankes Entsetzen. Fassungslosigkeit. Eine Ladung Pech wurde über die Erstürmer auf der schmalen Brücke verschüttet, löste alle aus ihrer Erstarrung. Mensch und Tiere schrien vor Schmerzen auf. Schlachtrösser, die in Panik versuchten aus der Engstelle herauszukommen, in dem sie aus Verzweiflung von der schmalen Brücke in den Untergrund sprangen. Manche unterschätzten das Brückengeländer und brachen sich die Hinterläufe daran. Manche brachen sich beim Sprung in die Tiefe gleich beide Vorderläufe. Andere versuchten die Flucht nach hinten. Sprangen über andere Schlachtrösser und Reiter oder versuchten es, rissen mehr als einen aus dem Sattel. Schlachtrösser, die gegen Schlachtrösser prallten. Dazwischen die Reiter, die eilig versuchten Platz zu machen, nicht unter die Hufe der aufgebrachten Tiere zu geraten. Manche retteten sich ins Wasser, wo sie ertranken. Manche schafften es nicht rechtzeitig sich vor den mächtigen Hufen in Sicherheit zu bringen.

„BRECHT DAS TOR AUF!“

„AUFBRECHEN!“

Und Ailsa lief. Nahm einen Platz am improvisierten Rammbock ein und stürmte mit den anderen auf das Tor zu. Pfeile prasselten auf sie nieder. Sie liefen weiter. Immer weiter. Was auch immer sie von oben oder der Seite traf, sie gaben nicht auf. Immer wieder stürmten sie auf das Tor. Dort drinnen waren ihre Leute. In einem Hinterhalt. Sie waren ausgeliefert! Das Tor musste aufgebrochen werden. Sie mussten da rein! Sie mussten! Oder die anderen starben. Würden elendig dahingemezelt. Ach was! Geschlachtet. Sie mussten!

Ihr Vordermann fiel. Sie rückte auf. Unter ihr der Getroffene. Sie hörte seine Schreie nicht. Sie hörte nur ihren eigenen Atem, den eigenen Herzschlag, das Rauschen des Blutes in ihren Adern. Sie stieg über das hinweg, was unter ihr lag, versuchte nicht zu stürzen, nicht zu straucheln, doch Halt zu finden war schwierig. Keiner schaute nach unten. Ihre Blicke waren nach vorne gerichtet. Auf das Ziel. Es war das Einzige, das zählte.

Und das Tor gab nach. Sie konnte es nicht sehen. Sie spürte es. Wieder nahmen sie anlauf. Wieder stiegen sie über die Toten, über Reiter und Pferde, manche noch nicht einmal ganz zu Boron gegangen, wieder stürmten sie gegen das Tor. Ailsa schrie und die anderen fielen mit ein. Ein unglaubliches Gebrüll erhob sich über dem Schlachtfeld. Da barst das Tor. Sie stürmte hindurch, fielen mehr als sie liefen und...

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Irgendwo in der Ferne hört sie das Weinen eines Säuglings. Sie stolperte auf die Ruine einer Burg zu. Noch immer fiel Schnee. Er hatte bereits begonnen die kläglichen Mauerreste zu bedecken. Noch immer fror sie. Noch immer trug sie nur ihre dünnes Hemd. Das Weinen wurde lauter und lauter. Sie lauschte. Hörte zu. Und glaubte, das Kind zu kennen...

Aldiran!“, entfuhr es ihr entsetzt und sie lief in die Ruine hinein, „Aldiran!“

Immer weiter und weiter lief sie durch das Gemäuer. Sie musste das Kind finden! Das Kind war der Erstgeborene ihrer Baronin, sie hatte ihn an seinem Weinen erkannt. Sie hatte ihn eindeutig erkannt. Es musste er sein!

Sie eilte durch ein Gewirr an Fluren und Gängen, immer weiter und weiter und auch durch eine Tür…

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Da umfasste sie jemand von hinten und zog sie an sich heran. Ein wohliger Seufzer entrann ihrer Kehle. Sie schloss ihre Augen und ließ sich gegen den Körper hinter ihr fallen. Ihren Kopf neigte sie leicht nach rechts, legte ihn gegen die Schulter hinter ihr.

„Wie lange?“, fragte sie ganz heißer, „Wie lange ist es her?“

Eine Antwort erhielt sie nicht. Stattdessen fuhr er ihr ganz langsam mit seiner Nase vom Ansatz ihrer Schulter bis zu ihrem Ohr hinauf. Sie erschauderte. Ein angenehmer kalter Schauer jagte ihren Rücken hinab. Dann begann er sie mit Küssen zu bedecken und nahm dabei denselben Weg wie zuvor auch, während seine Rechte unter ihr dünnes Hemd wanderte, nur um es ihr dann wenige Augenblicke später über den Kopf zu ziehen. Diese Gelegenheit nutzte sie um sich zu ihm umzudrehen und sich an ihn anzuschmiegen. Und sein Geruch, ja sein Geruch, er raubte ihr die Sinne. Wie konnte es nur sein, dass er sie so um den Verstand brachte? Wie konnte es sein, dass sie so gerne in seiner Nähe war? Dass sie einfach nicht Nein sagen konnte?

Einen Moment lang verharrte sie so, ganz dicht an ihn geschmiegt. Mit ihren Händen hielt sie ihn umfasst, kein Finger mehr hätte zwischen sie gepasst. Seine Hände glitten von ihren Schulterblättern stetig tiefer. Sie schaute zu ihm auf, blickte ihm direkt in die Augen und versprach: „Dieser Tag, wird ein ganz besonderer werden...“

Er lächelte sie an und stieß sie mit sanftem Nachdruck auf das Bett hinter ihr...

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Sie fiel hart. Um sie herum war alles finster. Über ihr baute sich ein dunkler Schatten auf. Sie versuchte sich aufzurichten, von diesem Ort wegzukommen, aber sie war vor Angst erstarrt, regelrecht gelähmt, selbst das Atmen fiel ihr zunehmend schwerer. Der Schatten über ihr wurde immer dichter und dichter, senkte sich immer mehr und mehr zu ihr herab. Sie schrie, doch hörte ihren eigenen Schrei nicht. In ihr da war nur Furcht, nur Angst. Es war ihr Ende. Sie flehte zu den Göttern: „Helft mir! Bitte helft mir! Ich will nicht sterben, ich will le...“

Da durchbrach der Schrei einer Krähe die Finsternis. Und mit ihr kam das Licht. Der Schatten erzitterte, bäumte sich auf. Die Krähe verharrte einen Augenblick über ihm. Dann stürzte sie sich auf ihn herab. Zerschmetterte ihn. Zerbarst ihn. Tausende funkelnde Splitter prasselten wie Hagelkörner auf Ailsa herab. Einen winzigen Augenblick noch schwebte die Gespensterkrähe über allem. Erhaben, mutig, stark. Dann stand da plötzlich ihre Schwester. „Nuri...“

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„...nai?“, Ailsa erwachte. Verwirrt. Leicht panisch. Sie atmete schnell, Schweiß stand auf ihrer Stirn. „Nurinai? Bist Du da? Wo... wo bist Du? Und... und wo bin ich?“

„Auf dem Weg zum Kaiserturnier nach Gareth“, wisperte die Geweihte leise und nahm sanft ihre Hände von Ailsas Schläfen, „Es war nur ein Traum, weiße Lilie, nur ein Traum. Nichts weiter. Es ist vorbei, hörst Du? Es ist vorbei!“

„Der Heerzug ist... vorbei?“, versicherte sich Ailsa.

„Er ist vorbei“, erwiderte Nurinai sanftmütig, „Der Heerzug ist vorbei. Doch die Schrecken bleiben.“

„Und was ist, wenn der Traum wieder kommt?", hauchte die Ritterin leise.

Die Geweihte antwortete nicht, sondern schlüpfte unter die Decke zu ihrer Schwester.