Geschichten:Drei Krähen und ein Räblein – Krähen im Wind
Baronie Greifenpass, Kosch, Rondra 1042
Am wolkenlosen blauen Himmel zog eine einsame Krähe ihre Bahnen. Sie nutzte den Wind und ließ sich treiben. Scheinbar ohne Ziel, ohne Mühe. Die vier Reiterinnen, unter ihnen ein Mädchen auf einem Pony, bemerkte sie erst gar nicht und als sie dann auf sie aufmerksam wurde, hätte sie nicht sagen können, wie lange sie schon da waren. Der Wind trieb sie weiter, weiter in jene Richtung, in die sich auch die kleine Reisegruppe mit den schwer beladenen Packpferden bewegte. Sie schlug einmal kräftig mit ihren Flügeln, um an Höhe zu gewinnen, und rief: „Krâwa. Krâwa.“
„Schaut mal!“, die Reiterin auf der Langmähne deutet an den Horizont hinauf. Sie trug, so wie die anderen auch, eine leichte Cappa aus dünnem schwarzem Wolltuch, welche sie nicht nur vor der zu dieser Jahreszeit hochstehender Praiosscheibe, sondern auch vor dem Staub der Reise schützen sollte. „Wir haben Geleitschutz!“
„Geleitschutz?”, erwiderte die Reiterin auf ihrem Schimmel abfällig und schüttelte ihren Kopf. Sie war eine hochgewachsene Frau mit meerblauen Augen und tiefbraunem Haar - etwas, dass alle drei Reiterinnen gemeinsam hatten. Diese jedoch trug ihr Haar zu einem schmalen Zopf zu ihrer Linken geflochten. An ihrem Gürtel hing ein Langschwert und an ihrem Pferd eine Orknase. „Ich habe Dir, Scanlail, gesagt, Du sollst das Vieh nicht anfüttern. Die wird uns jetzt überallhin folgen. Was sollen die denn auf Schloss Sonnentor von uns denken?“
„Das ist ein Zeichen, Schwestern!“, mischte sich die dritte Reiterin auf ihrer Teshkalerin ein. Sie trug eine schwarze Robe aus Wolltuch auf der eine aufwändige silberne Stickerei in Form eines Raben prangte. Ihr Haar trug sie offen und so kurz, dass es nicht mehr reichte um es zusammenbinden zu können. „Ein Zeichen der Götter. Sie wird uns Glück bringen.“
„Ich dachte eine Krähe bringt Regen...“, murrte die Ritterin da nur und verwies auf ein bekanntes Wiegenlied aus ihrer koscher Heimat, welches Scanlail nun anstimmte. Mit ihrer lieblichen und gut ausgebildeten Stimme sang sie:
„Eine für Regen,
Zwei für Wind,
Drei für Liebe,
Und vier ein Kind,
Fünf für Silber,
Sechs für Gold,
Sieben ein Unglück,
Götter, seid uns hold!
Götter, Götter, wir...“
Die Ritterin blickte währenddessen zum Horizont empor und betrachtete, wie die Krähe dort oben entlang glitt. Es schien so mühelos, geradezu beneidenswert mühelos. Was wusste so ein Tier denn schon von den Zwängen, die auf ihr lasteten? Es flog einfach. Folgte dem Wind. Ließ sich von ihm treiben, an fremde Ort führen - ganz gleich wohin sie der Wind trieb, sie folgte ihm, ohne Plan, ohne Ziel, sie ließ geschehen, was geschah. Und sorgen, worum musste sie sich sorgen? Um das Morgen gewiss nicht und um die darauffolgenden Praiosläufe sicher auch nicht. Natürlich musste sie sich selbst ernähren, aber sonst? Sonst war sie eines - frei! Wie gerne wäre sie eine Krähe im Wind, so frei und ohne Zwänge...
„... wir sind Euch treu“, endete die Skaldin. Da wandte die Ritterin ihren Blick wieder nach vorne.
„Was glaubst Du denn, was sie von uns denken?“, warf die Geweihte auf.
„Vielleicht, Nurinai, dass wir lebensmüde sind?“, schlug die Angesprochene da stirnrunzelnd vor, „Schließlich wollen wir freiwillig und erneut gegen widerwärtige dämonische Umtriebe vorgehen und dass - das wissen wir vom Haffaxfeldzug nur allzu gut - bezahlt man nur allzu oft mit seinem eigenen Leben. Das ist doch schon irgendwie... Wahnsinn!“
„In der Tat, ein gewisses Maß an Wahnsinn gehört wohl dazu. Ganz gewiss sogar.“, stimmte Nurinai mit ein, der der Wahnsinn in allerlei Ausprägungen und Formen durchaus gut - vielleicht sogar etwas zu gut - bekannt war, „Aber auch ein großes Maß an Idealismus.“
„Und waren es nicht schon immer diejenigen, Ailsa, die Veränderungen herbeigeführt haben, die sich willentlich und im vollen Bewusstsein in Abenteuer und Gefahren gewagt haben?“, fügte die Skaldin hinzu, „Es ist also nicht die Frage, was Du glaubst, was andere von UNS denken, es ist vielmehr die Frage, was WIR glauben, damit zu erreichen.“
„So eine Gelegenheit ergibt sich nur ein einziges mal im Leben..“, hob Ailsa an.
„... und um die Baronin vom Greifenpass weiter zu zitieren: ‘... und Du wärst eine verdammte Idiotin, wenn Du es nicht versuchst!’“, wurde sie kurz darauf von Nurinai unterbrochen, „Sei einfach keine verdammte Idiotin, Ailsa. Diese Gelegenheit ist Deine Gelegenheit und wenn Du sie nicht nutzt, dann wirst Du Dir das ein Leben lang vorwerfen. Und was mich angeht, so ist für mich nur eines wichtig: In eurer Nähe zu sein.“
Einen Augenblick schwiegen alle etwas betreten. Als sie Kinder waren, da hatten sie sich oft gestritten - auch heute war das nicht wesentlich anders. Doch heute wussten sie, dass sie zueinander gehörten, dass sie auf den anderen angewiesen waren. Sie liebten sich genauso, wie sie sich gelegentlich hassten. Doch wenn es darauf ankam, wenn etwas oder jemand sie von außen bedrohte, dann hielten sie zusammen und abgesehen davon, waren die Streitigkeiten spätestens am Abend vergessen. Sie waren eben Schwestern und daran vermochte nichts und niemand etwas zu ändern.
„Jemanden wie Dich, eine Geweihte wie Du eine bist, kann man dort draußen gewiss gut gebrauchen, Nurinai. Du verstehst Dich nicht nur auf den Grabsegen, sondern auch auf das Bewahren und Erhalten von Leben, das Heilen von Wunden - körperlich wie seelisch. Eine Geweihte an der Seite zu haben, noch dazu eine des Herrn von Tod und Schlaf, kann nie verkehrt sein“, meinte die Ritterin und sprach da durchaus aus eigener Erfahrung, „Gerade im Angesicht des Todes.“
Nurinai schwieg sich dazu aus. Sie sprach nicht über diejenigen, denen sie in Zeiten großer Not beigestanden hatte. Gerade wegen ihrer Verschwiegenheit wurde sie sehr geschätzt und war so manches Mal gerade von Adeligen gut entlohnt worden. Den größten Teil gab sie selbstredend an ihre Kirche weiter, behielt nur ein wenig zurück, schließlich musste sie ihr Leben auch irgendwie bestreiten. So war sie auch an die hübsche Teshkalerin gekommen, die auf den sehr bezeichnenden Namen Mors hörte.
„Und jemanden wie mich...“, erklärte die Skaldin da sichtlich gekränkt, weil keine ihrer beiden Schwestern daran gedacht hatte, auch über sie so voll des Lobes zu sprechen, „... kann man auch immer und überall gebrauchen, denn gerade im Angesicht von Tod und Verderben ist Zerstreuung durch Musik und Gesang äußerst wichtig, nicht zuletzt weil es neben Ablenkung auch die Moral stärkt.“ Sie untermalte das Ganze mit einem energischen, geradezu theatralischen Nicken. „Außerdem muss sich ja auch jemand um Lorinchen kümmern.“
Das braunhaarige Mädchen auf ihrem Pony blickte mit einem leichten Ausdruck von Panik in ihren blauen Augen erst zu Scanlail hinüber, dann zu Nurinai und schlussendlich zu Ailsa. Letztere lächelte sie einfach nur an und zuckte mit den Schultern und sagte: „Ja, irgendjemand muss sich auch um Lorinchen kümmern - nachdem diese ihre Verpflichtung gegenüber ihrer Pagenmutter erfüllt hat.“
Da verschwand die Panik aus den Augen der Pagin und zurück kehrte der unschuldige Blick, den sie auch sonst immer an den Tag legte.
„Was erwartet Ihr denn?“, wollte sie wissbegierig wissen und belegte ihre Herrin mit einem aufmerksamen Blick.
„Ich erwarte..“, Ailsa hielt einen Moment inne und dachte nach. Die letzte Zeit hatte sie viel nachgedacht. Sie hatte Nächte wach gelegen. Hatte den Rat von Vertrauten und nicht zuletzt von den Göttern eingeholt. Sie hatte gezweifelt, an sich selbst, am Vorhaben und daran, ob sie genügte, ob sie tatsächlich eine Aussicht hatte. Da draußen gab es so viele tapfere Ritter und Recken, warum sollte man gerade sie auswählen? Laut ausgesprochen hatte sie ihre Zweifel jedoch möglichst nicht - sie sollten schließlich nicht zu einer selbsterfüllenden Prophezeiung werden.
Auf dem Weg zum Kaiserturnier 1042 hatte sie noch große Zweifel darüber gehegt, ob sie es wirklich wagen sollte. Doch danach - nachdem sie glaubte bei der richtigen Person, im richtigen Augenblick, die richtigen Worte fallen gelassen zu haben - war die Sache für sie klar: Diese Gelegenheit, war ihre Gelegenheit. Und sie, Ailsa ni Rian, würde einfach nicht scheitern.
„Zunächst ist es eine Aufgabe. Eine Aufgabe voller Unwägbarkeiten und voller Gefahren und doch so voller Möglichkeiten. Vielleicht bringt sie uns Ruhm und Ehre, vielleicht im Leben“, sie lachte, „vielleicht auch nur vor den Göttern. Dann ist es ein Auftrag, verbunden mit einer großen Verantwortung. Wir haben uns bewiesen, sind gegen Haffax gezogen, haben schreckliches erlebt - aber wir sind noch da! Doch der Heerzug, er war die eine Sache, das dort draußen ist eine andere - wir werden nicht so viele sein und welche Schrecken dort auf uns warten, dass kann keiner sagen. Ich will es nicht vergleichen; ich glaube das das nicht möglich ist, einfach weil die Umstände andere sind.“ Sie holte Atem. „Vielleicht wird man mir weitere Aufgaben übertragen, vielleicht kann ich aufsteigen, mehr sein als eine landlose Ritterin, die von Turnier zu Turnier zieht - manchmal mit mehr, manchmal mit weniger Erfolg. Vielleicht wartet dort draußen ein Leben auf mich, von dem ich bisher nichts wusste und ein Zuhause. Der Kosch und vor allem das Rittergut unseres Vaters wird immer unsere Heimat bleiben, aber ein richtiges Zuhause… das haben wir bisher nirgendwo gefunden.“
Einen Moment schwiegen sie alle, was deutlich zeigte, dass sie alle einer Meinung waren - ein Zustand, der unter den drei Schwestern nicht allzu häufig vorkam und meist auch nicht lange vorhielt. In ihnen schlugen zwei Seelen: Die Koscher Seele ihres Vaters und die albernische Seele ihrer Mutter und weil beide gleich stark waren - obgleich sie den Kosch von Kindesbeinen an kannten und Albernia nur aus Erzählungen und von einigen wenigen Reisen - konnten sie in keinem der beiden ein Zuhause finden. Innerlich waren sie hin- und hergerissen zwischen hier und dort und egal wie sie sich entschieden hätten, es hätte sich doch nur ein Leben lang nicht richtig angefühlt.
„Und vielleicht finden wir einen netten Mann für Dich...“, platzte es plötzlich aus Scanlail heraus.
„... mit dem Du dann zusammen eine Wachburg oder einen Wachturm bewohnst...“, stimmte die Geweihte mit ein.
„... und mit gaaanz vielen süßen kleinen Kindern füllst.“
„Ach, was soll ich denn mit einem Mann?“, winkte Ailsa da lachend ab, „Wenn ich nachts jemanden brauche, der mir meine Decke klaut oder schnarcht oder gleich beides dann hab ich doch euch!“ Und für alles andere hatte sie ihn. Ja, ihn. Ein vielsagendes Lächeln legte sich über ihre Wangen. Und irgendwie war sie sich erstaunlich sicher, dass er sie das ein oder andere mal besuchen würde...
„Nur damit das klar ist“, erhob die Skaldin da ihren Einspruch, „ICH schnarche NICHT!“
„Und ob!“, konnte da die Geweihte nur lachen, „Und wie! Du solltest Dir mal nachts zuhören! Du hast schon mehrfach den kompletten Borrewald abgeholzt und das in einer Nacht!“
„Das ist mein Pferd!“, verteidigte sich Scanlail da energisch, „Mein Pferd schnarcht!“
Noch im selben Augenblick brachen Ailsa, Nurinai und Lorine in schallendes Gelächter aus.
„Als nächstes... als nächstes da erzählst Du uns noch, Dein Gaul.. Dein Gaul könnte singen oder… oder… oder auf Deiner Fidel spielen“, brachte Ailsa schließlich mühsam heraus.
„Ach, warum sollte ich denn so etwas erzählen, das wäre doch schlicht und ergreifend einfach nur kompletter Unsinn!“
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