Geschichten:Ein (un)sentimentaler Abschied

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Almira genoss die Ruhe in ihrer erstaunlich komfortablen und großen Zelle in Meilersgrund. Wann sie zuletzt soviel Zeit und Muße gehabt hatte, wusste sie nicht zu sagen - wohl aber, dass sich diese Augenblicke des Müßiggangs in diesem Leben nicht mehr wiederholen würden. Immerhin hatte sie so zum ersten Male seit langem wirklich einmal Zeit für sich und zum Lesen, zumal einige ehemalige Untergebene - die in der entscheidenden Schlacht für die Königin gefochten hatten - ihr, als Zeichen der besonderen Wertschätzung über die Fronten hinweg, einige Bücher zukommen gelassen hatten.
Die einstige Hauptfrau - ihren Rang hatte sie mit dem Schuldspruch verloren - war gerade in eine Lektüre über das weidener Rittertum vertieft (eine ausgesprochen schwere Kost), als die vormalige Offizierin durch das schrille Quietschen des sich öffnenden Türschlosses aus ihrer zuvor fast schon behaglichen Ruhe gerissen wurde.
"Besuch für Euch.", rief der Wärter ihr lapidar zu, bevor er sich ins Halbdunkel des Ganges zurückzog, den Besucher eintreten ließ und die Zellentüre dann wieder hinter ihm verschloss.

"Hm, recht angenehm habt Ihr es hier, Streitberger. Wenn man sieht, wie andere Delinquenten selbst adliger Abkunft untergebracht sind ... Übrigens höchst bemerkenswert, wie gelassen, ja beinahe heiter, Ihr Eurem Ende entgegenseht."

"Anscheinend hat sich irgendwer da draußen für mich eingesetzt, wobei ich mal davon ausgehe, dass Ihr es nicht ward, Siegerain. Und warum sollte ich auch nicht 'gelassen' sein? Ich hatte alles in allem ein gutes Leben bei ebenso guter Gesundheit bis ins hohe Alter. Und Kinder habe ich keine, um die ich mich sorgen müsste. Auch kann ich sagen, am Ende für eine große Idee gefochten zu haben; für etwas, das größer war als ich selbst. Worüber sollte ich mich also grämen? Dass ich nicht noch mehr im Leben erreicht habe? Noch ein Titel mehr? Noch mehr Gold? Noch ein Stück Metall mehr für die Heldenbrust? Pah! Doch genug von Dingen, die zu verstehen Ihr offenkundig nicht imstande seid: Was verschafft mir die unerwartete Ehre Eures Besuchs, mein geschätzter Herr Oberst?", schloss Almira mit kaum überhörbarem Sarkasmus.

Ihr 'Gast' strich seinen Wappenrock glatt, nahm auf dem einzigen Schemel in der Zelle Platz und musterte die Inhaftierte mit einem eigentümlichen Blick, bevor er zu einer Antwort anhob. Ihre letzten Sätze schienen bei ihm nachhaltigen Eindruck hinterlassen zu haben.
"Kein Grund zum Spott oder Sarkasmus, meine Liebe - Seloismus steht euch nicht gut. Ich wollte mich einfach nur verabschieden und Euch danken, dass Ihr es mir mit Eurem Verrat so leicht gemacht habt, Euch aus meinem Regiment zu, hm, entfernen."

"Na, immerhin redet Ihr nicht um den heißen Brei herum oder versucht, mir etwas vorzuheucheln."

"Warum auch? Euer Schicksal ist besiegelt und morgen seid ihr aller derischen Sorgen enthoben, wie man so schön sagt. Mir - und soweit ich weiß, auch meinem unfähigen Vorgänger - hätte es ja schon gereicht, wenn ihr beizeiten einfach demissioniert hättet. Dann hätte es zum Abschied für Euch ein paar warme Worte, eine kleine Abfindung und vielleicht noch ein Stück Blech gegeben. Alle wären glücklich gewesen. Aber Ihr wart halt bedauerlicherweise nicht willens oder in der Lage, zu erkennen, wann es an der Zeit war, zu gehen. Und Euch einfach zu entlassen, wie, ähem, 'ehrenvoll' auch immer, war leider nicht möglich, da dies zumindest für große Unruhe im Regiment gesorgt hätte, was nun gar nicht in meinem Sinne gewesen wäre. Oder kurz gesagt: Die Bombarden haben einen Befehliger und brauchen keine informelle zweite. Aber dankenswerterweise hattet Ihr jüngst ja Euren Idealismus entdeckt und Euch dafür letztlich auf die Verliererseite geschlagen."

Almira lächelte hintersinnig, nachdem sie den Ausführungen ihres vormaligen Obersten zuvor ohne äußere Regung gelauscht hatte.
"Ihr nennt es Idealismus, ich nenne es Ehre. Aber meine Zeit ist mir zu schade - und, wie Ihr wisst, bei weitem zu knapp bemessen - mit Euch diesen Begriff zu erörtern. Karrieristen wie Ihr verstünden es sowieso nicht. Leute Eures Schlages habe ich in den vergangenen Dekaden zu oft erlebt, als dass ich mich noch über sie empören könnte: Adlige mit guten Namen und Beziehungen, die ein schneidiges Auftreten mit Kompetenz verwechseln, andere für ihre eigenen Fehler verantwortlich machen und eher früher als später für allerlei Unheil sorgen, das ihre Untergebenen dann mit ihrem Blut ausbaden dürfen, während die Verursacher allenfalls einen milden Tadel oder gar eine Auszeichnung für ihren Dilettantismus erhalten. Und immerhin stand ich mit meiner Entscheidung für den Großfürsten für etwas ein; Ihr hingegen steht nur für Euch selbst."

"Und das bisher sehr erfolgreich, würde ich sagen. Und ja, Ihr seid zweifelsohne eine weitaus bessere Offizierin als ich es derzeit bin, darüber bin ich mir durchaus im Klaren. Überrascht? Aber genau deshalb habe ich keine Verwendung für Euch, da dies meiner eigenen Autorität eher abträglich ist, zumal, wenn zumindest ein Teil der Soldaten und Offiziere mehr auf Euer als auf mein Urteil gibt."

"Tja. Einem Mann von Ehre hätte ich gesagt, dann solle er einfach an seinem Profil arbeiten. Aber in Eurem Falle scheiterte dies ja schon daran, dass Ihr bisher keines entwickelt habt."

"Ui, welch´ gemeiner Tiefschlag. Ich will mich auch nicht weiter in sinn- und nutzlosen Geplänkeln mit Euch verlieren, sondern Euch nur wissen lassen, dass ich es bedauere, dass unsere 'Arbeitsbeziehung' so enden musste. Ich hatte daher leider keine andere Wahl, als Euch mit zum Tode zu verurteilen und dergestalt mein Dilemma aufzulösen."

"Was Euch aber nicht davon abhalten wird, zurück in Perricum Krokodilstränen um mich zu vergießen und an passender Stelle zu verkünden, dass Ihr zuvor alles versucht hattet, mir zumindest den Strick zu ersparen, richtig?"

"Richtig. Aber wäre Euch eine Verbannung auf zwölf Götterläufe denn wirklich lieber gewesen? Auch hier will ich ehrlich sein, ob Ihr es mir letztlich nun glaubt oder nicht: Ich habe nicht aus Hass oder Rachsucht für Euren Tod gestimmt, sondern weil ich glaube, dass dies für Euch das, hm, geringere Übel wäre. Ihr seid nicht meine Feindin, sollt ihr wissen, sondern lediglich ein Hindernis, dass ich aus dem Weg räumen musste, bevor ich selbst darüber stolpere. Hätte es eine andere, unblutige, elegantere Lösung gegeben, dann...". Siegerain ließ den Satz unvollendet im Raume stehen.

Die Delinquentin, die ihren Besucher zuvor mit einem spöttischen Blick bedacht hatte, schaute nach dieser Aussage nun überrascht, ja beinahe gerührt auf.
"Da habt Ihr tatsächlich ins Schwarze getroffen. Ich bin nicht so alt geworden, um arm und vergessen in der Fremde zu sterben. Aber Ihr erwartet doch nicht wirklich, dass ich Euch dafür jetzt dankbar bin? Oder hofft Ihr gar auf Absolution durch mich, weil Euch wider Erwarten nun doch das schlechte Gewissen plagt?"

"Nein, Dankbarkeit zu erwarten wäre dann doch ein wenig zu vermessen. Selbst für mich.", erwiderte Siegerain mit einem feinen Lächeln. "Und mein Gewissen lasst ruhig meine Sorge sein, Streitberger." Beim letzten Satz lachte der Offizier nicht mehr, sondern blickte fast schon betreten zu Boden.
"Sei es, wie es sei! Zwischen uns dürfte nun alles gesagt sein. Lebt wohl und Boron befohlen!"
Der Oberst klopfte an die Tür, welche sich kurz darauf öffnete. Beim Hinausgehen blieb er kurz stehen und fügte hinzu: "Die große Zelle verdankt Ihr übrigens mir. Auch das Buch, welches unter Eure Pritsche gerutscht ist."

Nachdem die Tür wieder verriegelt worden war, erhob sich die ob der letzten Aussage irritierte Veteranin, schaute unter die Pritsche - und lächelte. Direkt an der Wand lag ein kleiner Dolch. Siegerain musste doch tatsächlich so etwas wie ein Gewissen entwickelt haben, dass er ihr zumindest den Strang zu ersparen versuchte. Die Frau nahm die Waffe an sich, betrachtete sie kurz nachdenklich und wandte sich dann wieder ihrer Lektüre zu. Erst wollte sie noch das aktuelle Kapitel des Buches zu Ende lesen, bevor sie selbst das letzte Kapitel ihres eigenen Lebens beendete.

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Kurz nach seiner Rückkehr in die Reichsstadt am Darpatmund und einem Rapport beim Heermeister hatte Siegerain die wichtigsten Offiziere seines Regiments zusammengerufen und über das Gerichtsverfahren im Allgemeinen sowie die Verurteilung Almiras im Besonderen informiert. Sichtlich betreten teilte der Oberst den Versammelten mit, dass er alles versucht habe, um das Leben dieser so herausragenden Offizierin zu retten, doch damit leider nicht bei den anderen Richtern durchzudringen vermochte. Die Veteranin habe sich dann in der Nacht vor ihrer Exekution mittels eines von unbekannter Seite in die Zelle geschmuggelten Dolches selbst gerichtet. Nach einem kurzen Umtrunk zu Ehren der Verstorbenen entließ der Befehliger seine Untergebenen, welche schweigend mit gemischten Gefühlen den Saal verließen.
Siegerain schwieg ebenfalls, als er sich in sein Arbeitszimmer begab und einen Krug Wein einschenkte. Eigentlich, so ging es ihm durch den Kopf, müsste er doch zufrieden sein, gab es mit dem Tode Streitbergers nun niemanden im Bombardenregiment mehr, der seine Autorität ernsthaft infrage stellen könnte. Und gemocht hatte er dieses Weib ohnehin nie. Warum nur fühlte er sich dann so bedrückt? Ob vielleicht ein zweiter Krug Wein seine Laune höbe?