Geschichten:Ein Koch verdirbt den Brei
Fredegard war unterwegs zum Waisenhaus, welches seit der Landung Haffax´ und den anschließenden schweren Kämpfen in der Stadt beinahe aus allen Nähten platzte. Nicht erst seit ihre ungeliebte Stieftochter den Baronsreif zu Vellberg wider jeden Rechts zugesprochen bekommen hatte, hielt sich die einstige Baronsgattin vorrangig in der Reichsstadt auf. Sie hatte einige Zeit und Mühen darauf verwendet, sich – durchaus erfolgreich – den Ruf einer mildtätigen und gütigen älteren Dame zu erarbeiten, der gerade die ärmsten und schwächsten Bewohner Perricums, die Waisen, sehr am Herzen lagen. Den kleineren Kindern las sie Geschichten vor, den älteren brachte sie die Grundlagen der Handarbeit bei oder vermittelte sie an Krämer und Handwerker, um erstes eigenes Geld zu verdienen und zu lernen, auf eigenen Füßen zu stehen. Fredegard hörte sich die Sorgen und Nöte der Heimatlosen an, hatte für alle tröstende Worte, beschaffte ihnen abgetragene aber noch brauchbare Kleindung, wartete oftmals mit Süßigkeiten auf und ab und an gar mit einigen Münzen. Auch der das Haus leitende Geweihte der Travia betrachtete die so warm- und großherzig wirkende Adlige mit Wohlgefallen, ja bezeichnete sie gar als von der Göttin des Herdfeuers gesegnet – wohl nicht zuletzt ob ihrer großzügigen Spenden an seine Kirche – ein Ausspruch, der Fredegard jedes Mal zu einem hintersinnigen Lächeln veranlasste.
In gewisser Weise bedeuteten ihr die Kinder tatsächlich sehr viel: Die lieben Kleinen ließen sich nicht nur leicht manipulieren, sondern auch für allerlei Handlanger- und Spitzeldienste einsetzen. Die meisten von ihnen waren zudem für die subtilen und geduldigen Bekehrungsversuche sehr empfänglich – gerade die Ausgegrenzten, die Ausgestoßenen sehnten sich nach Zuneigung, nach einem Halt in ihren Leben. Fredegard war sehr daran gelegen, dass die armen Waisen nicht nur materiell, sondern auch spirituell stets gut versorgt waren, wenn sie dereinst alleine durchs Leben gingen. Ja, die Alt-Baronin war mit sich und ihrem frommen Tun sehr zufrieden – mit dem ihres Sohnes Ugdalf hingegen weitaus weniger.
An einem auf dem Weg gelegenen kleinen Marktstand kaufte sie gerade allerlei Naschwerk, dass die Adlige nachher unter den Kindern zu verteilen gedachte; dabei, wie fast immer, von Janne, einer ebenso ernsten wie aufgeweckten hübschen Fünfzehnjährigen, begleitet, die für die alte Dame mittlerweile zu mehr als nur einer großen Hilfe geworden war.
„Frau Fredegard, wie schön, euch hier zu treffen!“
Diese bezahlte zunächst ungerührt die Waren, bevor sie sich diesem impertinenten Störenfried zuwandte, der es wagte, sie wie eine gewöhnliche Magd anzusprechen. Es war Egtor, der Koch auf Burg Mallvenstein, der Feste, die lange genug ihr zuhause gewesen war. Die einstige Baronin zwang sich ein Lächeln auf, bevor sie dem von ihrem Sohn – nicht ganz freiwillig – Bekehrten antwortete.
„Ah, Egtor! Welch´ eine Freude! Wieder mal für Besorgungen in der Stadt, um meine lieben Mallvensteiner weiter mit euren außergewöhnlichen Kochkünsten verwöhnen zu können? Ich hoffe doch, in Vellberg steht alles zum Besten, oder?“ Dieser Simpel hatte ihr gerade noch gefehlt.
„Nein, Herrin, ich arbeite seit ein paar Tagen in einer Gaststube am Flusshafen. Gewisse Umstände zwangen mich jüngst dazu, die Baronie schnell zu verlassen.“
„Oh, das klingt aber ernst. Lass` uns doch ein paar Schritte zusammen gehen und erzähle mir mehr.“
Mit ein wenig Abstand schlenderte Janne hinter den beiden her.
Und Egtor erzählte. Vom Wahnsinn der Baronin, den Befragungen durch Vogt Norholt, dass dieser ihn verdächtigte und er daher schleunigst das Weite habe suchen müssen.
„Dabei habe ich doch nur das getan, was mein Glaube und mein Gott mir befohlen haben!“
„Will heißen?“, frug die Alt-Baronin mit lauerndem Unterton, während sie ihren Begleiter subtil in eine kleine Seitengasse führte.
„Nun, im Rondramond sandte man mir Pilze, die ich in meinen Kräutergarten einpflanzte, ganz so wie die Stimme des Herrn es mir befohlen hatte. Dann gab ich über eine lange Zeit hinweg kleine Mengen davon ins Essen ihrer Hochgeboren, ganz-“
„-wie es dir befohlen wurde. Ich verstehe. Und was ist mit den übrigen Pilzen? Hast Du Sie bei deiner Flucht mitgenommen oder beseitigt?“
„Nein. Daran hatte ich gar nicht gedacht. War das denn wichtig?“
„Nein, mach´ Dir keine Sorgen. Es ist alles gut. Und für Deine Dienste sollst Du natürlich angemessen belohnt werden.“
Nachdem sie sich kurz umgesehen hatte, brach die Adlige ihrem Begleiter in einer fließenden Bewegung mit geradezu beängstigender Leichtigkeit das Genick und ließ seinen Leichnam leise zu Boden sinken, den Rücken an eine Hauswand gelehnt. Dann schloss sie Egtor die Augen, sodass es auf einen flüchtigen Beobachter wirken mochte, als hielte der einstige Koch ein Nickerchen.
„Sorge dafür, dass der Kadaver möglichst schnell von hier verschwindet“, sprach die Alt-Baronin an Janne gewandt, ohne sich zu ihr umzudrehen.
„Ja, Herrin. Ich kümmere mich umgehend darum. Ihr könnt euch auf mich verlassen.“
„Das weiß ich, mein Kind. Ich bin wirklich stolz auf Dich und sicher, dass du es noch weit bringen wirst. Und nun entschuldige mich.“
Mit einem bitteren Lächeln setzte die Adlige ihren Weg fort. Sie hatte zwei eigene Kinder, doch wirklich stolz machte sie keines davon, sodass ihr mittlerweile diese Halbwüchsige mehr zur Tochter geworden war als Selinde. Kurz dachte Fredegard mit versonnenem Blick an das erste Zusammentreffen mit Janne zurück. Damals, vor etwa sieben Götterläufen, hatte ein ausgemergeltes und verlaustes Gör versucht, ihr in diesem Sündenpfuhl von Stadt die Börse zu stehlen. Erfolglos natürlich, gewiss, aber mit einer Entschlossenheit und einem Willen, der auch dann nicht brach, als sie dem Mädchen ihr kleines Handgelenk beinahe zerquetschte und es der Stadtwache übergeben wollte. Sie hatte das Kind stattdessen unter ihre Fittiche genommen, es gefördert und allerlei Dinge, auch und gerade Dinge des Glaubens, gelehrt. Zudem hatte sie Janne mehr und mehr zu ihren Augen und Ohren in dieser Stadt voller Möglichkeiten gemacht, die ihr alles Wichtige zutrug, das sich außerhalb der bigotten Welt von Adel und Stadtpatriziat ereignete. Das kluge Mädchen hatte von sich aus sogar ein eigenes kleines Netzwerk von Spitzeln aus anderen Straßenkindern aufgebaut. Soviel Gewitztheit ließ Fredegard nicht unbelohnt und hatte Janne letztlich in die Kirche des wahrhaftigen Götterfürsten eingeführt. Schon bald würde sie trotz ihrer Jugend die erste Weihe erhalten.
Doch dann zerstörte der plötzlich in den Vordergrund tretende Gedanke an ihren unfähigen Sohn, mit dem sie sich alsbald über die unerfreuliche Begegnung von vorhin würde unterhalten müssen, die vorherige, deutlich angenehmere, Erinnerung.
Wenig später hatte die Adlige das Waisenhaus erreicht, rasch umringt von einer Schar freudig erregter Kinder, die sich über etwas zu Naschen und auf ‚Tantchen Fredegards‘ Geschichten freuten.
Selinde brütete in ihrem Zimmer, wie so oft seit dem schicksalhaften Gespräch mit ihrer Mutter, dumpf vor sich hin, offenkundig dazu verdammt, darauf zu warten, dass diese einen Fehler machte. Doch Mutter machte keine, wie Selinde seit frühester Kindheit wusste. Ein schiefes Lächeln stahl sich auf ihr Gesicht. Fredegard stand ihr Leben lang – willentlich, wie die Baroness nun wusste – im Schatten ihres berühmten Gatten. Nie wäre es ihr oder sonst wem in den Sinn gekommen, dass die lange Zeit so unscheinbar wirkende Dame der weitaus größere – und auch skrupellosere – Geist von den beiden wäre. Selinde schüttelte sich kurz bei diesem Gedanken. Von dem ganzen Wahnsinn um sie herum abgesehen, vermisste sie ihre Kinder schrecklich. Ein lautes Klopfen an der Tür riss die Adlige jäh aus ihren Gedanken.
„Ein Brief für euch, hohe Dame!“, klang es dumpf durch die Tür.
Rasch war Selinde auf den Beinen und öffnete ihrem Besucher.
„Verzeiht die Störung, Herrin, aber gerade war ein Bote hier und hat diesen Brief-“
„Danke Bursche. Hier, ein Heller für dich.“ Und knallte, nachdem sie die Depesche entgegengenommen hatte, dem Jungen die Tür unversehens vor der Nase zu.
Rasch riss die Baroness den mit dem Siegelabdruck Vellbergs verschlossenen Umschlag auf, der ihre fast schon erloschene Hoffnung wieder entfachte. Und bald wieder erstickte.
Nichts! Keine neuen Erkenntnisse! Nur ein auf einem gestohlenen Gaul verschwundener Koch. Als wenn es sonst nichts Besorgniserregendes auf dieser Welt gäbe. Stattdessen besaß Norholt die Dreistigkeit, gewissermaßen den Spieß umzudrehen und sie für seine verqueren Nachforschungen einzuspannen. Selinde warf einen Blick auf die beigefügte Zeichnung, die irgendwelche seltsamen Pilze darstellen sollte. Glaubte dieser Kerl allen Ernstes, sie würde für ihn durch die halbe Stadt laufen, um jemanden zu finden, der mehr über diese komischen Pflanzen wüsste? Die Baroness schüttelte unwillig den Kopf. Mittlerweile musste es schon früher Nachmittag sein. Zeit, etwas zu essen, was sie ohnehin seit Tagen viel zu wenig tat.
Nach einem kleinen Imbiss, zu mehr hatte sie sich dann doch nicht durchringen können, begab sich die Adlige zum Kloster des Vergessens. Sie wollte der Äbtissin mitteilen, dass alle Nachforschungen den Grund des Wahnsinns ihrer Halbschwester betreffend nun endgültig im Sande verlaufen waren. Und sie wollte ein letztes Mal nach Elissa sehen, bevor Selinde nach Zackenberg zurückkehrte. Ihr Aufenthalt in Perricum war fürwahr höchst erfolgreich, summierte die Baroness bitter: Bei der Heilung ihrer Halbschwester gescheitert, von der eigenen Mutter gedemütigt, vom Bruder unermesslich enttäuscht und geradezu entsetzt. Ihre Familie war nicht mehr.
Das Gespräch mit Kalina Niodas war denn auch von recht kurzer Dauer. Die Geweihte nahm die Ausführungen ihres Gastes schweigend zur Kenntnis und versprach, Elissas Körper zu pflegen und für ihren Geist zu beten. Mehr war, sollte der Herr Boron kein Einsehen haben, nicht möglich oder zu erwarten. Mit einem stummen Nicken verabschiedete sich Selinde von der Vorsteherin. Noch heute würde sie um eine Audienz beim Markgrafen ersuchen und ihm die Sachlage schildern. Kurz hatte sie erwogen, dem Paligan auch von den Machenschaften ihrer Verwandtschaft zu berichten, doch verwarf die Baroness diesen Gedanken rasch wieder. Für derlei schwere Anschuldigungen hätte sie eine Vielzahl an gut beleumundeten Zeugen sowie unumstößliche Beweise benötigt, tatsächlich aufwarten konnte sie mit – nichts. Und ihre Mutter wusste das.
Beim Hinausgehen bewunderte sie die schönen Gärten des Klosters und bemerkte einen Boroni, der mit großem Geschick einige Sträucher zurechtschnitt und Unkraut zupfte. Einer plötzlichen Eingebung folgend, trat Selinde an ihn heran und fragte den Mann nach den komischen Pilzen, über die Norholt mehr zu erfahren wünschte. Wenn sie schon ihrer Halbschwester keine Hilfe sein konnte, dann vielleicht deren Vogt, wenngleich dies nur ein äußerst schwacher Trost wäre. So gut sie es vermochte, beschrieb sie dem ältlichen Geweihten das seltsame Gewächs, was diesen mit jedem weiteren geschilderten Detail besorgter wirken ließ. Stumm bat er die Baroness, ihm in die Bibliothek zu folgen, wo er einen recht abgegriffenen Quartband vor ihr auf das Pult legte und aufschlug. Offenbar ein Kräuterfoliant, ging es der Adligen durch den Kopf, denn das Buch enthielt kunst- und detailreiche Zeichnungen von zahllosen Pflanzen, einige davon reichlich merkwürdig aussehend. Unter den aufmerksamen Augen ihres Begleiters blätterte Selinde den Folianten auf der Suche nach besagten Pilzen durch, sich darüber ärgernd, dass sie nicht daran gedacht hatte, die Zeichnung mitzunehmen, was sicherlich einiges an Zeit gespart hätte. Im hinteren Teil wurde sie schließlich fündig: Das waren sie!
Zum ersten Mal richtete ihr schweigsamer Begleiter das Wort an sie, nun nicht besorgt, sondern fast schon entsetzt wirkend.
„Seid ihr sicher?“, fragte er bedächtig.
„Ja, das sind sie, kein Zweifel.“
„Dann folgt mir zur Äbtissin.“
„Aber da war ich doch gerade erst.“
Ein durchdringender Blick des Geweihten ließ Selinde verstummen und zugleich ins Grübeln kommen. Seiner Miene und seiner Reaktion nach zu urteilen, schienen diese Gewächse weit mehr als nur irgendwelche vermutlich giftigen Pilze zu sein.
„Du wolltest mich sehen, Mutter? Was gibt es denn so dringendes? Ich habe gerade-“
„Wir müssen unsere Aktivitäten Vellberg betreffend sofort einstellen.“
Ugdalf war ob dieser lakonischen Aussage seiner Mutter kurzzeitig wie gelähmt.
„Ich habe vor ein paar Stunden Egtor, deinen, nennen wir es ‚ausführenden Arm', in der Stadt getroffen.“
„Ah, wusste er Neues aus der Baronie zu berichten?“
„Das kann man so sagen. Der Kerl ist anscheinend aufgeflogen, hat die Nerven verloren und ist hierhin geflohen. Damit nicht genug. Daran, die Pilze unseres Herrn vorher zu verkochen oder zumindest zu vernichten, hat er ebenso wenig gedacht, wie daran, dass man manche Dinge besser für sich behält. Stattdessen hat er mir, ohne sich lange bitten zu lassen, haarklein erzählt, was er die letzten Monate in Deinem Sinne getan hat. Und wenn er mir das erzählt, dann täte er das früher oder später auch anderen gegenüber.“
„Also ist er für uns zu einer Gefahr geworden?“
„Nein, ich habe mich um ihn gekümmert. Wir werden nichts mehr von ihm sehen oder hören.“
Ihr Sohn musste unwillkürlich schlucken.
„Wir müssen also davon ausgehen, dass, falls nicht schon geschehen, unsere Feinde in der Baronie die Pilze finden und vermutlich ihre Bedeutung herausfinden werden. Und wenn nicht sie, dann deine Schwester, die wiederum diese Information an das Kloster des Vergessens weitergeben dürfte. Und am Ende dieser Ereigniskette stünde die mittelfristige Genesung des Bastardmädchens.“
Ugdalf setzte gerade zu einer Erwiderung an, als seine Mutter fortfuhr, ihn dabei böse anfunkelnd.
„Erspar´ mir dein Gerede von Wahrscheinlichkeiten! Das Scheitern Deines Planes war deutlich unwahrscheinlicher, als es nun das Eintreten der gerade von mir geschilderten Entwicklungen ist. Durch Egtors Tod gibt es keinerlei Verbindung zwischen dem Wahnsinn des Mädchens und uns. Wenn Du aber dein Ziel weiterverfolgst, dann besteht durchaus die Gefahr, dass sich dies ändert. Und deine Schwester ist nicht dumm, vergiss´ das nicht.
„Und wenn wir uns um sie mit der gleichen Sorgfalt wie um Egtor kümmern?“
„Nein! Selinde wird kein Haar gekrümmt, solange ich es nicht sage. Zudem ahnt sie weiterhin nichts von unserem wahren Glauben, stellt also auch keine unmittelbare Gefahr für uns dar.“
Etwas ruhiger fuhr Fredegard nach einer kurzen Pause fort: „Nein, wir sollten unsere Niederlage akzeptieren und uns neue Ziele suchen. Wie sagt ihr Militärs immer: Die Schlacht ist verloren, aber der Krieg geht weiter! Und so wird es auch bei uns sein. Dieses Land hat mehr zu bieten als nur Vellberg. Viel mehr.“
Ihr Sohn nickte nur stumm, wobei ihm nicht entgangen war, wie viel seiner Mutter noch an Selinde zu liegen schien. Vielleicht sollte er sich beizeiten selbst um seine Schwester kümmern; Fredegard müsste es ja nicht erfahren.