Geschichten:Ein Stift zu Ehren des göttlichen Nandus - Im Sertiser Rosengarten
Kaiserlich Sertis, im pfalzgräflichen Rosengarten
„Und Euch wird hier im Garten niemals langweilig, Euer Gnaden?“
Neugierg schaute die junge Knappin Selinde den genüsslich an den prallen Blüten eines besonders schönen Rosenstocks riechenden Gerdtian Gerheim an. Sie fühlte sich hier auf Breitenhain nicht sonderlich wohl, wurde nicht selten von der ihr körperlich überlegenen Greifgunde, die ebenso Knappin beim Pfalzgrafen war wie sie, getriezt und gehänselt. Aber in Momenten wie diesen vergaß sie ihre Umwelt und widmete ihre Aufmerksamkeit völlig dem mysteriösen Mann, der vom Pfalzgrafen auf Breitenhain aus ihr unbekanten Gründen gefangen gehalten wurde.
Der Nandus-Geweihte schüttelte lächelnd den Kopf. „Nein, es ist das In-der-Welt-Sein, durch welches uns die anderen Existenzialien ent-deckt werden. Mit der entdeckten »Umwelt« begegnet die so entdeckte »Natur«. Von deren Seinsart als zuhandener kann abgesehen, sie selbst lediglich in ihrer puren Vorhandenheit entdeckt und bestimmt werden. Diesem Naturentdecken bleibt aber auch die Natur als das, was »webt und strebt«, uns überfällt, als Landschaft gefangen nimmt, verborgen. Die Pflanzen des Botanikers sind nicht Blumen am Rain.“
Selinde nickte stumm. Wann immer es ihr möglich war, versuchte sie ihre knapp bemessene freie Zeit in der Gesellschaft dieses seltsamen Götterdieners zu verbringen, auch wenn sie nur in den seltensten Fällen verstand, worüber er sprach. Immer, wenn sie das Gefühl hatte, einen Zipfel seiner Gedanken gelüftet zu haben, spürte sie instinktiv, dass sie überhaupt nicht verstanden hatte, was er ihr sagen wollte. Sie war zwar durch ihre Kindheit im Hesinde-Kloster der Heiligen Ancilla gewohnt, dass es Rätsel gab, auf deren Lösung sie nicht kam. Doch hier verstand sie nicht einmal das Rätsel selbst.
„Natur darf aber hier nicht als das nur noch Vorhandene verstanden werden“, fuhr der Geweihte dozierend fort, „auch nicht als Naturmacht. Der Wald ist Forst, der Berg Steinbruch, der Fluß Wasserkraft, der Wind ist Wind »in den Segeln«.“
„So wie eine Rose eine Rose ist?“ fragte das Mädchen scheu nach. Anstatt einer Antwort lächelte der Geweihte milde und winkte sie heran, um an einer anderen Blume zu riechen.
„Hier bist du, Selinde. Der Pfalzgraf lässt schon nach dir suchen“, blökte es vom Eingang des Gartens her Wie eine massige Kuh lehnte Greifgunde an der zierlichen Pforte und grinste höhnisch.
Selinde wusste, dass sie ihre Entdeckung nicht verbergen würde und Kastellan und Pfalzgraf über diesen Spaziergang zwischen den „Hesinde-Heinis“, wie Greifgunde sich zu äußern pflegte mit großem Genuss informieren würde. Für Selinde bedeutete dies eine Woche Strafarbeiten, hatte ihr doch der Pfalzgraf persönlich den Umgang mit dem Nandus-Geweihten untersagt. Sie seufzte, machte einen eleganten Knicks vor dem Geweihten und lief in Richtung Palas.
„Ehrlich, was findest du nur an diesen Wirrköpfen so toll? Die können doch nicht mal ein Schwert richtig rum halten“, quatschte das bullige Mannweib neben der schweigsamen Selinde. „Die machen doch nur Scherereien, hetzen das Volk gegen den Adel auf und verstecken sich feige hinter ihren stinkenden Büchern.“
Du bist doch einfach nur zu dumm, du blöde Kuh, ging es Selinde durch den Kopf. Doch sie zwang sich zu einem Lächeln und nickte nur. „Ja, du hast ja Recht.“
Gerdtian Gerheim schaute den beiden Mädchen traurig hinterher. Er wusste, dass er ein Spielball von Interessen war, auch wenn er sich jeden Tag aufs Neue schwor, seinem Gott mit ganzer Kraft zu dienen und etwas von seiner Weisheit unter die Menschen zu bringen. Er lächelte bei dem Gedanken an die Verlautbarung über die Stiftungsgründung in Gareth, die ihn dieser Tage auf Umwegen erreicht hatte. Es waren gute Zeichen in einer schlimmen Zeit. Doch er fühlte sich der Hesinde-gefälligen Kaisermark von Tag zu Tag ferner, je länger er gezwungen war, sich hier in dem von Hesinde verlassenen Waldstein aufzuhalten. Aber dies war eben sein Los und das Opfer, welches er seinem Gotte schuldig war.
◅ | Ein Besuch am Abend |
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Erwägungen beim Steineschleppen | ▻ |