Geschichten:Ein neuer Herr – Wachablösung
Burg Zweifelfels, 4.Rondra 1043 BF:
Nachdenklich saß Baron Gisborn an Arngrimms Tafel und starrte ins Leere. Die Ereignisse um den Rat der Treuen in Silz schwirrten ihm noch im Kopf rum. Gräfin Allechandriel Quellentanz hatte ihre ihr und dem Land treu ergebenen Vasallen zu mythischen Questen aufgerufen um den im Reichsforst seit vielen Jahrhunderten verschollenen Werdomar Elfenfreund ausfindig zu machen. Am dritten Efferd, dem 'Tag der Heiligen Kvorvina', dem Jahrestag der Korgonder Offenbarung des Elements Feuer, würde er mit sieben weiteren Streitern zu seiner heiligen Queste aufbrechen. Er konnte es kaum erwarten dem Land zu dienen.
Ein Pochen an der schweren Holztür des mächtigen Bergfrieds 'Arngrimms Wacht' riss Gisborn aus seinen Gedanken. Es war der Erste Hausritter Radegund von Luring-Cronenfurt.
"Radegund, er freut mich Euch zu sehen. Wie laufen die Vorbereitungen zur Prozession?"
"Alle sind im Burghof versammelt, Herr, und warten auf Euch." Mit ernsterer Miene fuhr der altgediente Ritter fort. "Herr, ich diene Eurer Familie nun schon seit vielen Götterläufen und bin dankbar Baron Debrek als meinen persönlichen Freund bezeichnen zu dürfen. Das Jahresorakel hat düstere Zeiten verkündet und auch der Leunin und ihrem dunklen Sohn dürstet es nach Blut. Wie Ihr wisst und es Ihre Gnaden Leowyna verkündet hat, scheiterte der Schiedsspruch von Leuenfried. Meine Heimat Reichsforst und Hartsteen liegen nun weiterhin in Fehde. So wie Eurer Land und Euer Blut Euch in finsteren Zeiten braucht, braucht das meine mich nun in meiner Heimat." Radegund atmete tief ein. Augenscheinlich tat er sich schwer damit, das Gesagte über seine Lippen zu bringen. "Ich bitte Euch in Demut und ewiger Freundschaft mich aus Euren Diensten zu entlassen, damit ich meiner Familie in diesen schweren Zeiten beistehen kann."
Baron Gisborn hatte der Vorrede seines Gegenübers ohne erkennbare Regung zugehört. "Eure Dienste für meine Familie und die Freundschaft, die Euch mit Debrek verband, sind unschätzbar. Ich bedauere Eure Entscheidung, doch kann ich sie gut nachvollziehen. Der Ruf des Blutes ist stärker als alles andere." Ein gütiges Lächeln umspielte nun die Gesichtszüge des jungen Mannes, dem im Inneren nur zu bewusst war, dass er gerade seinen ersten Hausritter verloren hatte.
Mit Demut und Dankbarkeit im Herzen viel Radegund ein letztes Mal vor seinem Herrn auf die Knie. "Habt Dank, Herr."
"Begleitet mich noch ein letztes Mal als mein Erster Hausritter in der Prozession nach Sankt Henrica. Wenn der Tag erlischt, seit Ihr von allen Pflichten entbunden und so frei wie der Windvogel, dem wir heute ehren."
Gefasst traten Baron Gisbron und Ritter Radegund aus dem Bergfried. Der Burghof war überfüllt von Höflingen, Hausrittern, Gardisten und Untertanen. Einige hatten übergroße Vogelfiguren aus Stoff bei sich, die im Wind wild flatterten. Der Baron führte zusammen mit seiner Gemahlin Isida die 'Prozession des heiligen Windvogels' an. An seiner Seite schritt mit aufrechtem Gang Ritter Radegund.
Andächtig zogen die Prozessionsteilnehmer durch das Tor des Klosters Sankt Henrica. Unzählige bunte Vogelfiguren aus Stoff flatterten im Wind und sollten den Windvogel symbolisieren – das Zeichen des Elements Luft der Korgonder Offenbarung.
Gemächlich füllte sich der Innenhof des Hauptgebäudes und die Pilger versammelten sich vor einem übermannsgroßen Mosaik, das in die Nordwand des Gebäudes eingelassen wurde. Es zeigte das Erscheinen des Windvogels vor der Trauergemeinde des verstorbenen Barons Debrek und war ein Geschenk von Baron Gisborn an das Kloster.
"Im Namen des heiligen Altars von Korgond habe ich euch gerufen um den heutigen 'Tag des heiligen Windvogels' mit euch feierlich zu begehen. Die zweite Offenbarung, die vom Wiedererscheinen des heiligen Korgond kündete, jährt sich nun zum dritten Male. Doch sind wir auch in tiefer Andacht hier versammelt, denn Gedenken wir hier auch Debrek dem Ritterlichen, der für das Land, für euch, sein Leben ließ. Der Windvogel, der Verkünder des Wiedererwachen des Landes, soll fortan einen besonderen Platz in unserem Herzen haben, verkündete er doch den Anbruch einer neuen Zeit. Hier, an diesem Ort, wollen wir ihn alljährlich Gedenken und das Land ehren. Mein Blut, das Blut meiner Vorväter, verbunden mit den Mächten des Landes, soll diesen Ort zur Ehre des Windvogels angedeihnen lassen."
Mit diesen Worten zog der Baron seinen Dolch aus zwergischen Toshkrilstahl und ritzte sich in seine rechte Handfläche. Bedächtig schritt er an das Windvogel-Mosaik und führte seine Hand an das steinerne Kunstwerk.
"Möge der Windvogel uns an die alten Bünde mit dem Land gemahnen und uns den Weg in eine neue Zukunft aufzeigen. Mein Blut für das Land! Mein Leben für das Land! Wie einst die Heilige Henrica auszog um die Gefahren für das Land zu bekämpfen und dem Land zu dienen, so diene auch ich dem Land!"
Als Baron Gisborn geendet hatte brach bei den Anwesenden unbändiger Jubel aus.
Abtissin Rudjahne von Sturmfels hatte sich das Treiben von einer Balustrade aus angesehen. Welch unverhohlene Unverschämtheit, dachte sie sich. Wie konnte er es wagen diesen heiligen Ort der Leunin so zu entweihen und die Heilige Henrica so zu missbrauchen. Unbändige Wut stieg in ihr auf. Hinter hier traten Ehrgard von Wetterfels und Emer Alara von Rallerspfort an die Abtissin heran. Beide, vom Baron hierher verbannt, blickten voller Abscheu auf das Treiben im Innenhof herab.
"Der Salzene Prinz wird zu einer Gefahr, er ist zu nah am Spitzohr der Gräfin und kann den Pöbel zu leicht für sich gewinnen." Ehrgards Worte wirkten wie Gift. "Wir versammeln uns in der heutigen Nacht in der Krypta am Grab meines Sohnes. Wir müssen diesem Treiben Einhalt gebieten."