Geschichten:Ein neuer Reichsvogt - Berufen
Schloss Gerbaldsaue, Sitz des burggräflichen Hofes der Gerbaldsmark, Ende Firun 1039 BF:
Der grimmige Firun löste so langsam seinen eisigen Griff über die Goldene Au, so dass auch das höfische Leben wieder wie aus einem Winterschlaf erwachte. Besonders am Gerbaldsmärker Hof. Begierig hatten die Höflinge nach diesen Augenblick gelechzt, erwarteten sie doch nun, nachdem das Reisen wieder einfacher wurde, nahezu täglich einen kaiserlichen Boten. Denn, die Gerbaldsmark war über den Winter führerlos geblieben, nach dem Reichsvogt Mulziber von Tannengrund im Travia zu Boron gefahren war. Nun erwarteten die Höflinge die baldige Ernennung eines Nachfolgers. Die Frage war, würde die Kaiserin wieder „nur“ einen Reichsvogt ernennen, oder gar einen neuen Burggraf? Kandidaten gab es reichlich. So beispielsweise der Sohn der vor einem Götterlauf ermordeten Burggräfin Rondriane von Eslamsgrund. Wie es hieß, machten sich vor allem die alten Häuser für den Eslamsgrunder stark. Auch das jüngere Haus Streitzig wurde genannt. Aber auch den bisherigen Seneschall Reto Eorcaïdos von Aimar-Gor hatten manche auf dem Zettel. Dieser hatte während der Vakanz bereits die Amtsgeschäfte kommissarisch übernommen.
So war es der 19. Tag des Firunmondes, als der so herbei gesehnte kaiserliche Bote auf Schloss Gerbaldsaue eintraf. Wie ein Lauffeuer verbreitete sich diese Nachricht und so versammelten sich die Höflinge im Großen Saal, voller Erwartung auf das nun Kommende. Und tatsächlich, der Bote schritt auf den Seneschall zu und übergab ihm eine gesiegelte Urkunde. Der Gesichtsausdruck nach dem Lesen der Urkunde war unmissverständlich: Die Kaiserin hatte Reto Eorcaïdos von Aimar-Gor zum neuen Reichsvogt der Gerbaldsmark ernannt. Ein Raunen ging durch den Saal. Verhalten begannen die die Höflinge zu klatschen.
Die Frage blieb, warum die Kaiserin keinen neuen Burggrafen, sondern nur wieder einen Reichsvogt ernannt hatte. Und für wen war dieser der Platzhalter? Für einen verdienten Helden aus dem Tobrien-Feldzug vielleicht? Oder doch für einen der Gareth-Sprösslinge aus zweiter Reihe, wie etwa die Kinder von Reichsvogt Gerwulf?
In der Menge der Höflinge standen die Hofkaplanin Linai Josmine von Feenwasser und die Mundschenkin Kedia von Sturmfels. „Welch Meisterstück des Paligan die alten Häuser aufs neue zu düpieren.“ Anerkennung lag in der Stimme der Hesinde-Geweihten.
„Warum bist du dir so sicher, dass der Kaisergemahl dahinter steckt?“, flüsterte Kedia zurück.
„Aimar-Gor und Paligan kennen sich schon seit ihrer Jugend. Unser neuer Reichsvogt hat keine eigene Hausmacht, du weißt, sein Haus ist seit dem Abfall von Aranien landlos. Er ist also voll und ganz eine Kreatur Paligans und zur Treue gegenüber dem Kaiserhaus verdammt.“ Nach einer Pause fügte sie hinzu: „Komm, lass uns Marbos und Deromir suchen. Was die wohl davon halten?“
Die beiden Damen entfernten sich und ahnten nicht, das ihr Gespräch von zwei Männern interessiert mitangehört wurde. „So so, Reto eine Kreatur des Paligan? Was sagst du denn dazu Romelio?“ Marbert vom Berg schaute amüsiert zu seinem ehemaligen Pagen.
„Die beiden Damen scheinen wohl nicht gut informiert zu sein.“ Auch der Privatsekretär des Seneschalls, nun mehr Reichsvogt, schien äußerst belustigt.
„Nun, Reto wäre wohl der letzte den der Paligan hier protegiert hätte, aber wer kennt schon das kleine Geheimnis zwischen den beiden. Reto wird es nur recht sein.“
„Aber wer war es dann?“
„Ich habe da so eine Ahnung...“