Geschichten:Eine Grafschaft zu ordnen – Sei gegrüßt, Freundin der Weisheit
Baronie Falkenstein, Anfang/Mitte Rondra 1046 BF
Das Schlangenkränzchen lief am ersten Tag nach ihrer Ankunft noch gediegen aus und über in den Alltag, der allerdings immer noch hesindianischer und freimütiger zuging als anderen Höfen, wenn auch weniger als während des Kränzchens. Und so konnte sich die Gruppe die nächsten Tage auf die in der Burg verteilten kleinen Archive und Bibliotheken stürzen. Doch die schiere Ansammlung von Wissen, fast einem Hesindetempel oder einer Akademie gleich, machte dies gar nicht so einfach, also begnügte man sich mit ergänzenden Quellen zu dem bereits bekannten und wenigen spontan gefundenen Dingen, wie z.B. einfachen Listen zu Einwohnern und Abgaben, aber auch den schon bekannten Plänen zum Falkenstieg oder den Berichten über Waldschrate, die das Dorf Schratenberg im Wall beschützen sollten. Viel zu finden waren auch die Landschaftsbilder der Baronstante, welche ihre Wacht im Dorf Horst ebenfalls im Raschtulswall hielt, diese Tante schenkte ihrem Neffen, dem Baron, wohl allzu gerne einige ihrer Bilder, für die sie dort oben offenbar viel Zeit hatte.
Der Baron selbst hatte währenddessen kaum Zeit für die Gesandtschaft, er wäre meist in Klausur, ließ er wissen und traf die Gruppe meist nur bei unverfänglichen und anregenden gemeinsamen Essen oder Gesprächsrunden mit anderen Gästen. Er war ein freundlicher, aber beschäftigter Gastgeber, der seinen Hof locker aber gut im Griff hatte, ein vorbildlicher Edelmann mit enormem Wissen und Witz. Dabei verwies er immer wieder auf die hesindianische Tugend des Entdeckens und Forschens. Sein Sohn hingegen machte sich noch rarer und ritt meist aus. So arbeitete sich die Gruppe noch einige Tage durch alles was ihnen zu Ohren oder in die Finger kam, doch für die weitere Sichtung blieb ihnen schlicht zu wenig Zeit, denn der Graf forderte einen Zwischenbericht, bei ihrer nächsten Station in Gräflich Eslamsgrund, wohin sie alsbald aufbrachen.
Titel wie “Feyala” ergänzt durch “Vom freien Willen, Wesen und Wissen der Elfen.”, “Am 50. Tor”, “Das Buch der Weisheit”, “Prachtausgabe von Gespräche Rohals des Weisen” und “Prachtausgabe von Was glaubt das Volk?” (**) prangten auf Buchrücken, beschrifteten Pergamenthüllen und losen Blattsammlungen. Nirgendwo lag Staub, alles war gut, aber sehr eigenwillig sortiert hier. Ergänzt wurden diese sehr speziellen Titel durch weitere Prachtausgaben von Standardwerken aus verschiedensten Themenbereichen wie Glauben und Magie, Rechts- und Staatskunde, Geschichte und Derographie, Sagen und Legenden usw. Die Schriftstücke waren allerdings nicht alleine, etliches Kartenwerk, kleine mechanische Spielereien und Kunstwerke gesellten sich zu ihnen. Von hier oben von dieser Kammer aus beobachtete Baron Haduwulf die abreisende Gruppe der Iventeure und wandte sich dann ab. Die kleine Scharade war vorbei, er genoss es nicht, diesen Leuten etwas vorgemacht zu haben, einige von ihnen hatten das nicht verdient. ‘Doch der Weise offenbart seine tiefsten Geheimnisse nur denen, die sie auch zu sehen bereit sind.’ - ‘...bzw. es nicht falsch verstünden.’, dachte er sich. Hier in seiner Turmkammer, von der weniger als eine Handvoll ‘Enthaubteter’(*) wussten und deren Entdeckung nur denen vergönnt war, die die entsprechenden Hinweise richtig deuteten und daraus die richtigen Schlüsse zogen, war es ruhig. Hier gab es nur ihn und die Werke, die den einfachen Geist zu schnell verwirrten, sie falsche Schlüsse ziehen ließen oder die schlicht zu selten oder empfindlich waren. Nicht alle davon hatte er bereits gelesen, geschweige denn durchdrungen. Viele davon waren auch noch nicht lange in seinem Besitz und er beschäftigte sich mit diesen, wann immer er konnte. Er kommentierte, verglich, zitierte, strich und hinterfragte sie. Nicht alles darin teilte er, manches interpretierte er anders und manches wiederum verwarf er schlicht. Er versuchte eine Wahrheit in und zwischen ihnen zu finden, aber in erster Linie wollte er einfach nur Wissen und sich dabei keine Schranken auferlegen, sondern sich ihnen mit offenem Geist aber wissenschaftlicher Distanz nähern. Er war schon immer ein Mann des Wissens und der Künste gewesen, doch die jüngsten Ereignisse, die Groß-Garetische Fehde, aber vorallem, der Fuchsaufstand und die Folgen (wie etwa der Entzug ‘seiner’ Stadt) hatten ihn neugierig darauf gemacht, ob da nicht mehr wäre. Mehr als die einfachen Erklärungen und Strukturen die ihr Leben beherrschten. ‘Herrschaft…’, dachte er, waren es wirklich sie, die herrschten oder beherrschte ihr eingeschränktes Denken sie und ihre Welt? Eine Welt, die sie nicht mal im Ansatz verstanden und die sie dementsprechend in möglichst einfache Bahnen gezwängt hatten.
‘Herrscher’, ‘Diener’, das waren solche sehr einfachen Bahnen und Begriffe und diese Werke würden ihm dabei helfen, dies besser zu verstehen. ‘Wenn du deine Erwartungen nur auf das stützt, was du zu wissen glaubst, verschließt du dich den Möglichkeiten einer neuen Realität.’ Bei diesem Gedanken fiel sein Blick unweigerlich auf das wichtigste Stück seiner Sammlung, jenes dass nicht einmal sein Sohn kannte, aber auf das er nur durch seine gerade verstorbene Mutter gestoßen war. Er hatte es so eben aus dem Versteck geholt, auch dieses wäre dem Aufmerksamen, der mit offenen Augen durch die Welt geht, nicht unmöglich zu finden. Vorsichtig nahm er die alte Rolle, einem schlicht verzierten Staffelstab oder Zepter gleich, welches aber kein Oben oder Unten kannte, in die Hände. Er drehte am versteckten Verschluß, die feine Mechanik darin klickte leise. Daraufhin konnte er das etwas speckige, aber einst sicherlich reinweiße Pergament aus der Rolle ziehen, nun eine Stabseite an der oberen Kante, eine an der unteren Kante des Pergaments. Es war leer, bis auf wenige Verzierungen. Haduwulf legte das Pergament auf sein Schreibpult, welches verziert war mit Schlangen- und Einhornmotiven. Vorsichtig strich er es glatt. Dann nahm er eine Feder zur Hand, tunkte deren Spitze in ein Tintenfass, strich etwas von der dicken, schwarzen Flüssigkeit am Rand des Fasses ab. Er atmete durch und setze die Feder an: “Sei gegrüßt, Freundin der Weisheit.” Die Letter hoben sich deutlich vom Pergament ab, dann sickerten sie hinein und verschwanden.
Kurz darauf schälten sich dunkelrote Buchstaben aus dem speckigen Weiß des Pergaments: “Auch ich grüße dich, Haduwulf, mein Freund.”
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(*) Enthaubteter = Dem die Falkenhaube vom Kopf (dem Verstand) genommen wurde und der nun sieht.
(**) Weitere Werke und (Teil-)Abschriften in der versteckten Turmkammer: “Auszüge aus dem Codex Corvinus”, “Auszüge aus dem Buch der Leiber”, “Auszüge aus Also spricht Rastullah”, “Auszüge aus Kosmogonika”, “Von der Kunst des freien Denkens”, “Das Heldenzeitalter”, “Auszüge aus Vom Wesen des Staates, seiner Erhaltung und Förderung”, “Praios’ größtes Geschenk”, “Korgond - Vom Dienen und Herrschen”, “Auszüge aus Der Blick in den Regenbogen”, “Auszüge aus Offenbarung der Sonne”, “Auszüge aus Hinterlassenschaften des Hüters”, “Auszüge aus Wahn der Verfolgung”, “Vom Leben und sein der Völker in Wald und Flur”, “Auszüge aus dem Compendium Drakomagia”, “Phobia”, “Zu Gast bei Rebellen, ergänzt durch Der fliegende Diskus - Die Philosophie der Marakaner”, “Reisebericht der Tamara”, “Die Freiheit und Radikalität der Kunst und der Lyrik und was wir aus ihr lernen können.”, “Von der Anderswelt und den Feenwesen”, “Brand-Fragmente der Schriften Gneiserichs von Falkenstein”, “Berichte und Fragmente vom Wiedererscheinen Korgonds”, “Das Geheimnis der Schwerelosigkeit”, “Gespräche mit Lechmin von Hartsteen”, “Auszüge der Trollzacker Manuskripte”, “Vom Anbeginn der Welt”, “Prachtausgabe von Der ringende Herr”, “Vom Land und den Göttern”, “Die Hofdame”, “Der Hoffnarr” und “Der Fürst”, “Auszüge aus Simias vergessener Garten”, “Anachchophaxius - Ein rebellisches Witzbuch”, “Auszüge aus ‘Vom Spotten’”, “Auszüge aus Etherisches Geflüster”, “Satuarias Töchter”, “Von der Brennenden Liebe - Gedanken der Yesana von Omlad”, “Von der bekümmerlichen Lage der Fronarbeiter der Leibeigenen in Almadien”, “Wider Fron und Lehen”, “Pamphlete des Einhorns”, “Schriften Elmenbarths”, “Auszüge aus Liber Enigmarum Nandi” etc. und zur persönlichen Erbauung “Von Haken, Sehne und Rute - Die Kunst des Angelns”.