Geschichten:Eine Gruft für Odilbert - Auf der gräflichen Feste Feidewald
Gräfin Thuronia von Quintian-Quandt verläßt nach der Morgenandacht den Tempel der Feste, begleitet von ihrem jüngsten Sohn Udalbert und ihrer Tochter Tsalinde sowie Männern und Frauen ihrer engsten Umgebung, darunter Hauptmann Bendrich von Quintian-Quandt und die junggebliebene, alte Tsageweihte Selissa. Man weiß nicht, ob beim Gang über den Burghof die Gräfin die Geweihte stützt oder die Geweihte die Gräfin – jedoch gehen sie Arm in Arm. Entgegen kommt ihnen Elvena, des Hauses redliche Hüterin. Eine aus dem Hause Hartsteen, das schon, aber der Gräfin trotz allem loyal verbunden. Es heißt, Elvenas Fürsprache ist es zu verdanken, daß die Familie Hartsteen nichts gegen die Quintian-Quandts unternimmt, solange die alte Thuronia noch lebt. Sobald aber ihr Sohn Geismar erbe, werde der Kampf um die Revanche erneut begonnen, die gefordert wird, seit Rondrasil von und zu Harsteen die Grafschaft an die Sippe derer von Quintian-Quandt verlor.
Elvena: »Hochwohlgeboren! Verzeiht, daß ich Euch nach dem Götterdienst abpasse, aber es gibt ein dringendes Anliegen!«
Die Gräfin [sanft]: »Meine Liebe, nichts ist so dringend, daß man es in der Morgenbrise besprechen müßte. Es sei denn, man sei Soldat und im Felde oder Händler auf dem Fischmarkt. Ich bin beides nicht.«
Elvena: »Gewiß, Hochwohlgeboren. Das weiß ich wohl, allein – es ist schwer zu Euch zu dringen. Ich bat Euren Sohn viele Male ...«
Die Gräfin: »Welchen?«
Elvena: »Junker Geismar, Hochwohlgeboren.«
Die Gräfin: »Natürlich. Er ist sehr eifrig. Er erledigt jetzt schon fast das gesamte, lästige Grafengeschäft; er wird mir ein guter Nachfolger werden.«
[Man ist nun in der großen Halle angelangt, die Empfangshalle, Festhalle und Remter in einem ist. Auf der langen Tafel ist ein Imbiß aufgetischt – kein Fleisch natürlich, denn in Thuronias Halle weht Tsas Hauch. Die Gräfin setzt sich auf einen der hochlehnigen Stühle, rührt das Essen aber nicht an. Stirnrunzelnd (was sie eigentlich immer tut) blickt sie die Vogtin an, die sich nun um die Tafel herum bewegt hat, damit sie ihrer Gräfin ins Gesicht schauen kann. Die Kinder Udalbert und Tsalinde – 30 und 27 Jahre alt – flankieren die Mutter. Ihre Gnaden Selissa zieht sich zurück.]
Die Gräfin: »Nun, Elvena. Es scheint ernst zu sein. Sprecht.«
Elvena: »Hochwohlgeboren, es geht um Familienangelegenheiten ...«
Udalbert: »Schon wieder!? Mann! Ich kann das Geplärre nicht m...«
Die Gräfin [gelassen]: »Still, Sohn. Das Deine kann ich auch nicht mehr hören.« Wieder zu Elvena: »Es sind nicht die üblichen Anliegen, Elvena?«
Elvena: »Nein, es geht um eine Bitte meines Vetters Hilbert zu Sertis. Er ersucht um eine letzte Ehre für seinen Vater, den sicherlich auch Euch als kühn und klug bekannten Odilbert von Hartsteen. Er möge in der alten Familiengruft zu Harsteen zur letzten Ruhe gebettet werden, wie seine Vorfahren.«
Die Gräfin: »Diese Bitte ist nur recht und billig, auch wenn Odilbert selig seinem Leben einen besseren Sinn als den des Kriegführens hätte geben können. – Warum hat er seine Bitte nicht selbst vorgetragen?«
Elvena: »Er hat Euch zwei artige Briefe geschickt, Hochwohlgeboren, auf die Ihr nicht geantwortet habt.«
Die Gräfin: »Diese habe ich auch nie zu Gesicht bekommen. Udalbert: Mach Dich einmal nützlich und hole Deinen Bruder.«
Udalbert: »Welchen?«
Die Gräfin [beherrscht]: »Na, Geismar, Udalbert, Geismar!«
Udalbert entschwindet, seinen ältesten Bruder holend.
Die Gräfin: »Soso, Hilgert. Ich dachte des Reichsvogts Tochter Lydia Yasmina würde jetzt auf Sertis vogten?«
Elvena: »Eine traurige Geschichte. Die Arme hat erkannt, daß die Götter sie nicht als Vogtin vorgesehen haben, und nach bösen Omen hat sie die Amtsgeschäfte in die Hände ihres Bruders gelegt. Sie findet sich nun selbst.«
Die Gräfin [stirnrunzelnd]: »So?« [langes Schweigen]
Udalbert betritt wieder die Halle, ihm folgt Geismar: Ein nicht mehr ganz junger Enddreißiger, schwerfälliger Körperbau, leicht pummelig, teuer gewandet, Ringe an den Fingern, eine schwere Kette um den Hals. Sein Haar ist wie das seiner Mutter dunkel (alle anderen Kinder haben das blonde Haar des verstorbenen Vaters geerbt). Sein Gesicht ziert eine Art Knebelbart, die Augen sind dunkel unterlaufen. Er wirkt auf den ersten Blick übernächtigt und verschlafen, auf den zweiten hingegen hellwach. Man sagt, Verstellung sei sein größtes Talent und sein größtes Laster. Man sagt auch, daß er der einzige Mann auf dem Dererund wäre, der einem Kutscher ein Ruder verkaufen könnte.
Geismar: »Mutter, Ihr habt mich rufen lassen?« [Er friemelt mir einem spitzen Knochen ein paar Reste eines Hähnchens zwischen den Zähnen hervor und spuckt es auf den Boden. Tsalinde erschrickt über die Provokation, Udalbert zeigt ein böses Grinsen, die Gräfin lächelt milde.]
Die Gräfin: »Ja, mein Sohn das habe ich. Verzeih, daß ich Dich bei deinem Leichenschmaus gestört habe. Elvena, tragt ihm vor, was Ihr mir gesagt habe.«
Elvena [verunsichert]: »Ja, also. Ich erzählte Ihrer Hochwohlgeboren, daß mein Vetter Hilgert im Namen und Gedenken an seinen Vater darum ersucht hat, dem gefallenen Odilbert eine letzte Ruhestätte in der Gruft seiner Ahnen zu gewähren. Ich erzählte auch, daß zwei artige Briefe dieses Inhalts an Ihre Hochwohlgeboren gesandt worden waren, die aber unbeantwortet blieben, weshalb man sich jetzt allenthalben wundert, warum Ihre Hochwohlgeboren auf eine solche edle Bitte nicht antwortet.« Geismar: »So, ›allenthalben‹ wundert man sich, ja? Geht der Bursche mit seiner moralinsauren Geschichte herum und hausiert?«
Die Gräfin: »Geismar! Mäßige Dich. Mich bestürzt diese – neue ... [Seitenblkick] – Information zwar auch, das aber ist kein Grund, so lästerlich zu reden. Wir sprechen hier immerhin von einem aufrechten Garetier, Hartsteen hin oder her.«
Geismar. »Nein, das tun wir nicht. Bitte trenne zwischen dem Vater und seinem Sohn, Mutter! Hilgert ist lammfromm – solange man hinsieht. Dann aber ... Ich habe diesbezüglich ein paar hochinteressante Informationen erworben ... doch das müssen wir nicht vor den Ohren einer Hartsteen ausbreiten.«
Die Gräfin: »Deine Informationen interessieren mich nicht, Geismar. Herrje! Du klingst ja schon wie mein Vater! Hier geht es um den Leichnam des Vogtes Odilbert und vor allem um zwei Briefe, die ich jetzt gerne lesen würde.«
Geismar: »Mutter, es ist nicht gerade sinnvoll, Familienzwist vor den Ohren Dritter auszutragen, vor allem, wenn es solche Dritte sind.«
Die Gräfin: »Da hast Du recht. Und dennoch: Hast Du die Briefe gesehen?«
Geismar: »Das habe ich, Mutter. Sie sind heuchlerisch und schmeichlerisch. Und Du weißt, wie sehr ich Heuchelei und Schmeicheleien verabscheue. Jedenfalls habe ich sie nicht sehr ernst genommen.«
Elvena: »Junker Geismar, das sind sie aber durchaus. In der ganzen Familie ist man betrübt über die vermeintliche Haltung des Hauses Quintian-Quandt, Herrn Odilbert selig seine letzte Ruhe in Harsteen zu verweigern.«
Geismar. »Bahbah! Davon kann doch keine Rede sein. ›Betrübt‹ – ha!« [und ganz leise: ›Ich hätte nichts dagegen, die gesamte Familie in dieser Gruft zu bestatten ..‹]
Die Gräfin: »Nun, Elvena, dann teilt doch dem jungen Herrn Hilgert mit, daß sein Vater selbstverständlich in die Vätergruft gebettet werden darf. Wer wäre ich denn, ein solches Anliegen abzulehnen?«
Geismar: »Moment! Vermutlich denkt man bei Euch Hartsteenern, die Krämer wollten sich diese Gefälligkeit bezahlen lassen, nicht wahr? Euer Zögern sagt mit, daß ich recht habe. Da das so ist, können wir hier eh nichts mehr verlieren, und darum wird Herr Hilgert uns ...«
Die Gräfin: »Du hast Recht, Geismar. Wir werden uns die Gefälligkeit bezahlen lassen.«
Geismar, Tsalinde und Udalbert: »Mutter!?«
Elvena: »Hochw...?!«
Die Gräfin: »Jawohl. Mit einer anderen Gefälligkeit. Ich bin zu alt, um den Zwist zwischen unseren Häusern beizulegen, zumal das der tun sollte, der damit angefangen hat. Aber sei’s drum. Mich dauert die kleine Lydia Yasmina, und deshalb verlange ich als Gegenleistung, daß sie sich in die Obhut meiner lieben Selissa begibt, die ihr gewiß helfen kann aus der Gewissensnot, in der sie sich gerade befindet. Meint Ihr, das kann Herr Hilgert akzeptieren?«
Elvena: »Natürlich, um seines Vaters willen.«
Die Gräfin: »Gut. Dann, Geismar, setze ein Schreiben an Hilgert auf: Odilbert solle zu Hartsteen bestattet werden und Lydia Yasmina solle nach Feidewald kommen. – Und: Ich unterzeichen höchstselbst.«
Geismar [grollend]: »Jawohl, Mutter.«
Die Gräfin erhebt sich, ohne vom Imbiß gegessen zu haben, und verläßt auf ihre Tochter gestützt die Halle. Zu dieser murmelt sie leise: »Dabei glaube ich, die beiden würden sich verstehen, wenn sie nicht Hartsteen und Quintian-Quandt wären; ich meinen, diesern Hilgert und meinen Sohn.«
Tsalinde: »Welchen?«
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