Geschichten:Eine gräfliche Jagd – Knochenspur
Herzogtum Weiden, Firun 1045 BF:
Mit vollendeter Haltung stand Reichsvogt Reto Eorcaïdos von Aimar-Gor wie versteinert da. Gwendolyn von Dûrrnwangen musterte den Aranier, doch es gab nichts zu beanstanden. Offensichtlich hatte er ein Auge für den Lichteinfall, für das Spiel von Licht und Schatten. Der Reichsvogt ließ sich wohl nicht zum ersten Mal auf eine Leinwand bannen. So stand die Hofmalerin an der Staffellage und war dabei ein wahres Kunstwerk zu erschaffen.
Um Reto stromerten aufgeregt seine beiden Leibpagen Siyandrion von Palmyr-Donas und Salix Eorcaïdos von Aimar-Gor herum. Auch seine beiden Knappen Tolmario von Aralzin und Wulthos von Pandlaril blickten wie gebannt auf die Szenerie. ‚Reto im Blautann‘, war der Arbeitstitel des Gemäldes.
Der zweite Salix, nämlich Retos Leibritter Salix Borontreu von Zolipantessa, betrat zusammen mit Tobor von Grîngelbaum und dem Diener Amar Feqzaïl den Raum. Letzterer brachte heißen Gewürzwein für Retos Entourage. „Wir platzen vor Neugier“, begann Salix, „wie wars im Blautann?“
„Treffen sich zwei Weidener, ein Albernier, eine Horasierin und ein Aranier im Blautann … aber der Reihe nach!“
Reto, der es immer noch gekonnt schaffte, Haltung zu bewahren, begann zu erzählen.
„Ach, voller Vorfreude auf die bevorstehende Jagd hatte ich mich von meinem guten Amar in meine äußerst dekorative Jagdkleidung kleiden lassen, die wie gewohnt hervorragenden Stil und Funktionalität miteinander verbunden hatte. An meiner Seite hatte ich meinen Säbel ‚Radschas Rache‘ gegürtet und auch meine Armbrust war mit von der (Jagd-)Partie. Wie bei all meinen Gewändern, hatte ich auch nicht an Zierrat und Schmuck gegeizt. Doch besonders lieb war mir der silberne Luchsanstecker, den ich bei meinem letzten Besuch von der Bärwalder Gräfin bekommen hatte.“ Ein liebevoller Blick wanderte zu Wulthos, den dieser erwiderte.
„Mit gewohnt wachen Augen und einem Blick für jedes noch so kleine Detail, hatte ich das adelige Treiben auf dem herzoglichen Jagdgut Waldleuen verfolgt und parlierte dabei mit unserer hochgeschätzten und erfrischend wortgewandten Hofmalerin Gwendolyn von Dûrrnwangen über die Weidener Buchmalerei, als Prinz Arlan höchstselbst sein Wort an Reto richtete.“
Staunend blickten sich die beiden Pagen Siyandrion und Salix an.
„Wenige Augenblicke später fand ich mich zusammen mit der geschätzten Gwendolyn in einer äußerst illustren Gruppe wieder, bestehend aus den Ritterinnen Etilia von Ehrwald und Yandebirg von Leufels sowie dem Ritter ehrenhalber Coran ui Branghain. Der prinzliche Auftrag sollte uns nach … ehm Tobor?“
„Zur Ruine Kranewitt“, führte der junge Weidener Ritter fort.
„Ah ja, genau und dann sollte es weiter in den Blautann gehen. Was erzählt sich das Volk nochmal über den unheimlichen Forst?“
„‚Den Blautann sehen und sterben‘, Hochgeboren.“
„Sehr richtig! Das versprach also wenig erheiternd zu werden. Doch ich muss sagen, ich wurde ein aufs andere Mal überrascht. Nicht zuletzt vom Blautann, der, auch wenn er zu Recht als gefährlich und abweisend gilt, doch viel Schönes und Erhabenes in sich trägt. Besonders hervorheben möchte ich die Begegnung mit dem Einhorn Tirnavir, ein mächtiges Exemplar seiner Gattung. Es war mir eine Ehre und tiefstes innerliche Verlangen diesem vollkommenen Wesen dienlich zu sein. Noch immer hallt die Stimme dieser Kreatur in meinem Kopf nach. Wahrlich ein Erlebnis.“ Die Augen der Pagen begannen zu leuchten. „Doch besonders berührt, das muss ich unumwunden zugeben, hat mich das Schicksal des jungen Holberkers namens Nadik.“
„Holberker?“, fragte Siyandrion mit runzelnder Stirn.
„Ja, das passiert, wenn sich Elfen und Orks paaren“, antwortete der zweite Salix wie gewohnt abgeklärt.
„Oh, das ist ja … wild.“ Siyandrion wirkte etwas irritiert.
„Der junge Nadik wurde von diesen wenig dekorativen Schnitter-Kultisten gefangen gehalten. Natürlich haben wir ihn befreit und im Gegenzug hat er uns bei der Orientierung im Blautann geholfen. Irgendetwas an seinem Blick berührte mich, vielleicht, weil er auch fern der Heimat weilte, oder dass er nach etwas Größerem suchte.“
„Auch wenn er ‚nur‘ ein Halbork war … wie haben das die Weidener aufgenommen?“, wollte Tobor wissen.
„Nun, alles Orkische ist hier zulande natürlich etwas delikat – verständlicherweise. So haben wir ihn vor unserem Zusammentreffen mit den anderen Suchtrupps nahegelegt, zu seiner eigenen Sicherheit auf unsere weitere Gesellschaft zu verzichten.“
„Deregewandtheit kann wohl nicht überall vorausgesetzt werden“, schnaubte Salix 2.
„Ah, es empfiehlt sich, ins Herz eines jeden zu blicken, mein lieber Salix, nicht alles, was für uns selbstverständlich ist, kann anderenorts als Norm angesehen werden. Wir sind hier nicht in Gareth oder Perricum. Doch, meine Lieben, was lernen wir daraus?“ Reto scherte sehr zum Unbehagen der Malerin aus seiner Pose aus und blickte in die Runde.
„Den Menschen immer ins Herz sehen“, plapperte Salix 1 seinem Herrn nach.
„Ja, mein Guter“, sprach Reto gönnerhaft. „Wir können nicht erwarten, dass andere so denken und handeln wie wir es tun. Wir sind auf uns und unsere Stärken zurückgeworfen. Ein Beispiel: Im Blautann waren wir im Kampf mit finsteren Ketzern verwickelt, die, wie wir später herausfinden sollten, auch Nadik gefangen hielten. Unsere Weidener Ritterinnen folgten ihrem Ehrenkodex, auch gegen diese finsteren Kultisten. Am Ende oblag es mir die Angelegenheit zu Ende zu bringen.“
„Wie?“, wollte Siyandrion wissen.
„Ich habe sie getötet! Also die Kultisten, nicht die Weidener Ritterinnen versteht sich. Sie hatten ihr Leben bereits verwirkt, da musste das Reich Stärke zeigen. Ich denke, unsere Schicksalsgemeinschaft war deshalb so erfolgreich, weil wir so unterschiedlich waren und ein jeder etwas zum Erfolg unserer Mission beitragen konnte. Besonders hervorheben möchte ich jedoch die edle Dame von Dûrrnwangen, die uns mit ihren Bogenschießkünsten eine große Unterstützung war, wiewohl der Blautann wohl nicht ihr bevorzugtes Terrain war.“ Reto lächelte der Hofmalerin wohlwollend zu.
„So wurde der Holberker verschont, die Schnitter jedoch getötet“, stellte Tolmario fest.
„Sehr wohl, Nadik war nicht unser Feind, er ist seiner Natur gefolgt. Seine Belange betrafen die des Reiches nicht. Die Schnitter hingegen, haben sich ganz bewusst gegen die Reichsordnung gestellt. Da darf das Reich keine Gnade zeigen!“
„Also gibt es manchmal ungewöhnliche Verbündete, denen wir ins Herz schauen sollen und Feinde, die nichts anderes als unsere volle Härte verdient haben?“
„Sehr richtig, mein guter Siyandrion! So und nun lassen wir der tüchtigen Künstlerin ihr Meisterwerk vollenden.“