Geschichten:Elmenbarths Lehre – Freiheit der Forschung

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Schloss Morgenfels, Ingerimm 1039 BF

Das Turmgelass war ein lichtdurchfluteter Raum. Die Rundung des Eckturms gab dem Raum einen Dreh, der durch die Verzierung von Wänden und Decke - eine Spirale - kunstvoll verstärkt wurde. Unterhalb der bunten Spirale, die nur von einem Anhänger der ewigjungen Tsa ausgeführt worden sein konnte (oder von jemandem, der bestimmte Pilze im Übermaß zu sich genommen hatte), schloss sich pechschwarzes Wandpanel an, dessen aufwändiges Schnitzwerk von der Farbe geschluckt wurde. Man musste ganz nah herantreten, um die Szenerien, Figuren und Symbole erkennen zu können, die weite Passagen der zwölfgöttlichen Unterweisungen darstellen. Von der Decke hing ein monströser Lüster aus auffällig gewachsenen und komponierten Hirschgeweihen, an deren vielen Enden bunte Ampeln hingen, die im Licht der morgendlichen Sonne nicht leuchteten. Auf dem Boden, der aus polierten roten Schlunder Marmor bestand, lagen weiß-gelb gewebte Teppiche mit groben floralen Mustern. Einziges Möbelstück war ein geschwungenes Kannape, das vor den schmalen Fenstern in der Turmrundung so arrangiert war, dass der darauf Sitzende seinen Blick entweder hinaus in die umgebende Natur ober hinein den Raum des Götterkunsterkers werfen konnte, wie das Zimmer genannt wurde.

Als man Gerdtian Gerheim zu dieser frühen Stunde in den lichtdurchfluteten Raum brachte, hatte er Jahre in einem Kerker gesessen, in dem ihn - je nach Lust und Laune der Gefängniswärter oder nach Willen dessen, dessen Geheiß ihn im Loch hielt - saisonale Privilegien gegeben und genommen worden waren: ein Fenster nach draußen, eine warme Lagerstatt, ein anregender Zellengenosse, Licht am Abend, Bücher zur Lektüre. Gerheim fürchtete mittlerweile den Tag, da ihm ein Privileg gegeben wurde, mehr als den Tag, an dem er es wieder verlor: Solange es währte, konnte er die Hoffnung nicht unterdrücken, das Privileg behalten zu dürfen, so sehr er sich auch mühte, diese trügerische Hoffnung kraft seines geschulten Verstandes zu unterdrücken. Aber die Leere; die folgte, warf ihn jedesmal nieder, und nur mühsam konnte er sich aus diesen finsteren Abgründen wieder nach oben kämpfen: Gedankenspiele waren es, die ihn wieder in seine Mitte brachten, der Rückzug in sein inneres Selbst, der Dialog mit den Gedanken, die Gerheim in seinem Kopf versammelt hatte: seine eigenen und jene, die er sich erlesen hatte. „Erlesene Gedanken“ war eines der plumperen Wortspiele, das ihm gleichwohl gefiel.

Als er nun den Götterkunsterker betrat - angetan mit frischen Kleidern und gewaschen mit mehr als nur kaltem Wasser, nämlich seinem ersten Stück Seife seit vier Jahren -, war es die Helligkeit, die ihn schmerzte. Das Licht Praios‘, das mit seiner winterlichen Klarheit direkt in Gerheim Stirn zu schneiden schien, um die Augen herauszubringen. Gerheim blinzelte, doch gewöhnte sich sein der Dunkelheit anvermählter Blick nicht an die Helle. Danach schmerzte ihn der Anblick des Wirbels an Decke und Wänden: Es schien ihm, als wäre die obere Hälfte des Zimmer in rasender Bewegung, in einem irrwitzigen Taumel, einer raschen Drehung, die Gerheim schwindeln ließ. Und darunter die Wandvertäfelung schien ihm das Sinnbild seines eigenen Grabes, aus dem seine verrückte Seele zu fahren schien. Erdenschwer und traurig war es da unten - und dann sah er den Marmorboden wie Lava, die Teppiche wie Flammenzungen - und da wusste er: Es gibt keine Niederhöllen, nur dieses Leben, das er lebte.

Wo war sein Verstand? Gerheim sackte zusammen, krümmte sich so klein, wie es ging, und verbarg das Gesicht unter seinen Armen wie ein Vogeljunges.

In diesem Zustand fand ihn Horulf von Luring, als er gemeinsam mit zwei Begleitern den Raum betrat, Quendan von Ahrenstedt und Fridega von Isppernberg. Der Cantzler setzte sich auf das Kanapee mit Blick auf das menschliche Bündel zu seinen Füßen und gab Ahrenstedt mit dem Kinn ein Zeichen. Ahrenstedt trat den Gekrümmten unsanft: »He, aufwachen!«

Gerheim schrak hoch - Schläge und Tritte waren bisher nicht Teil seiner Qualen gewesen.

»Gerdtian«, sang Ahrenstadt höhnisch, »aufwachen. Komm hoch!« Er packte Gerheim und setzte ihn kniend vor den Cantzler. »Vielleicht hätte man doch einen Inquisitor holen sollen, um dir Flötentöne beizubringen.«

Luring schnippte mit dem Finger und hatte nun Ahrenstedts und vor allem Gerheims Aufmerksamkeit: »Grüß dich, Gerdtian. Lass dir von Ahrenstedt keine Angst einjagen: Die Inquisition kannst du dir wahrscheinlich ersparen.«

Gerheim erinnerte sich genau an diese leise Stimme, die behäbig über die Silben schliff: Das war sein wahrer Kerkermeister. Das war der Mann, nach dessen Willen er hier seit Jahren festgehalten wurde. Gerheim erschrak fast, als er Luring ins Gesicht sah, denn an diesem Gesicht, das von Arbeit, Mühsal und Sorgen ausgezehrt und gealtert war, konnte Gerheim die Zeit ablesen, die ihm in seiner dunklen Zelle gestohlen worden war. Er entdeckte in diesem Gesicht keine Zuneigung und kein Mitleid, sondern nur kühle Berechnung. Die hinter dem Cantzler stehende Frau sah ebenfalls mit ausdrucklosen Echsenaugen auf ihn herab. Gerheim schwieg.

»Gerdtian«, fing Luring an und atmete tief durch, »es wird Zeit, dass wir eine Entscheidung treffen, was dich betrifft. Gefällt es dir hier?«

Gerheim war auf der Hut und schüttelte langsam den Kopf, als ihn eine harte Hand auf den Hinterkopf schlug: »Sprich, solange du eine Zunge hast!«, zischte Ahrenstedt.

»Nein, Exzellenz«, antwortete Gerheim schleppend. »Es gefällt mir nicht sonderlich hier.«

Luring verzog keine Miene: »Dann sollten wir daran etwas ändern. Hast du gewusst, dass da draußen alles in Aufruhr ist? Dass deine Nandus-Kollegen aus dem Häuschen sind, weil sie das Thema Korgond für so aktuell halten? Ich weiß noch nicht, wohin das führt und was es bedeutet, aber ich werde es herausfinden. Du weißt auch nicht viel darüber, nicht wahr? Hast du Lust, mir dabei zu helfen?«

Gerheim überlegte lange, antwortete dann aber hastig, als Ahrenstedt erneut ausholte: »Ich hülfe gern, wenn es um Wahrheit und Erkenntnis geht, Exzellenz.«

»Auch mir? Na, das habe ich mir gedacht. Weißt du: Ich kann dir doch nicht trauen. Das ist überhaupt das Dilemma, vor dem wir hier stehen. Oder knien: Du wirst mir die Jahre nicht verzeihen, die ich dich in Morgenfels‘ Eingeweiden habe sitzen lassen. Ich kann dich darum nicht zu Elmenbarth und deinen Freunden zurückschicken. Andere würden versuchen, aus dir einen Agenten zu machen, aber warum solltest du einen Agenteneid über den Eid zu deinem Halbgott stellen? Daraus folgt …?«

Atemlos setzte Gerheim fort: »… dass Ihr mich nicht freilassen werdet?«

»Ganz genau, Gerheim. Ich kann dich nicht freilassen.«

»Aber dann stellt mich doch vor ein Gericht! Ich werde jedes Urteil …«

»Aber ich nicht«, unterbrach Luring. »Gerichte haben die lästige Angewohnheit, Entscheidungen fällen zu wollen. Und ich mag es nicht, wenn man mir Entscheidungen abnimmt.«

»Ist das rechtens?«, hakte Gerheim nach, all seinen Mut zusammennehmend.

»Juristisch betrachtet: nein. Politisch betrachtet: Wen kümmert’s? Jetzt wirst du dich fragen, warum ich mir die Mühe mache, zu dir zu kommen, wenn ich dich sowieso nicht freilassen möchte, hm? Die Antwort ist: Du kannst mir auch helfen, wenn du nicht frei bist. Du wirst für mich jede Menge Dokumente, Traktate und Bücher lesen müssen, die Emaranus, Varena, Quandt, Salmingen zum Thema ›Herrschaft‹ und ›Korgond‹ geschrieben haben. Dazu alles, was eine bestimmte Versammlung in Sancta Ancilla in Monaten an Papier produziert hat. Du wirst dich mit Reliefsteinen befassen und mit der Lehre des Elementaren Hexagons. Ich habe nicht die Zeit, mich zum Korgond-Experten zu bilden, deshalb wirst du mein Korgond-Experte werden. Verstanden?«

Gerheim blickte den Cantzler staunend an. Was sich ihm da bot, war eine Perspektive, mit der er nicht mehr gerechnet hatte: forschen.

»Ich werde noch einen zweiten Korgond-Experten haben, Gerdtian, also versuche nicht, die Wahrheit zu verdrehen. Aber das wirst du sowieso nicht, nicht wahr? Daran hindert dich ja genau der Eid, der dich eigentlich untauglich macht, für mich zu arbeiten.« Luring erhob sich.

Gerheim unterdrückte den Impuls, seinem Kerkermeister zu danken, dennoch sprach sein Blick Bände. Er sagte: »Komme ich aus dem Loch heraus? Dort ist es nicht gut für Bücher und Pergamente …«

»Du kommst da raus. Aber nicht so weit, wie du denkst. Leb wohl.« Luring ging. Die Isppernberg und Ahrenstedt blieben noch.

»Du hast mehr Glück als Verstand«, höhnte Ahrenstedt. »Der Cantzler will etwas von dir und lässt dich leben. Aber er gibt dich in meine Hände. Siehst du sie hier? Wenn du mich ärgerst, dann schneide ich dir die Zunge heraus. Dann kannst du ihm schreiben, was er wissen will.«

»Lasst das, Quendan«, ging Fridega dazwischen. »Ihr seid widerlich. Lasst Eure sadistischen Klauen von ihm. Und von meinem Vater auch, verstanden?«

»Natürlich«, grinste Ahrenstedt so gewinnend wie ein Zant.



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Texte der Hauptreihe:
P10. Briefe
K83. Zweifel
29. Ing 1039 BF
Freiheit der Forschung
Bruchstücke II


Kapitel 85

Zweifel


Kapitel 5

Autor: BB