Geschichten:Familienbesuch I
In der zweiten Nacht des neuen Jahres hatte Elissa nur wenig Schlaf gefunden, da ihre Gedanken sich darum drehten, wie sie die benötigten Mittel für ihren Anteil am Ausbau der Passstraße beschaffen sollte. Auch wenn die Baronin noch nicht wusste, wie hoch die finanzielle Unterstützung ihres Lehnsherrn hierfür letztlich ausfallen würde, so glaubte sie doch nicht daran, dass dieser das Gros der Kosten oder gar die gesamte benötigte Summe übernähme. Dies – und das sehr schmale Säckel ihrer Baronie – waren der Adligen natürlich schon bei ihrer Zusage für das sehr kühne Vorhaben bekannt und daher hatte sie sich auch schon überlegt, von wem sie wohl Unterstützung erbitten (und idealerweise erhalten) könnte. Übrig blieben letztlich zwei Personen, sowie die Frage, wie diese von ihrem und Bärfrieds Vorhaben wohl zu überzeugen wären.
Nach einem gemeinsamen Frühstück mir ihrer Pagin Jasina beschloss Elissa, dieses Problem noch heute anzugehen, bevor das geplante Bauvorhaben in der Reichsstadt als Gerücht die Runde machte und sich womöglich eher früher als später verselbständigte, ohne dass zuvor die Finanzierung gesichert worden wäre. Blieb nur zu hoffen, dass die beiden potentiellen Geldgeber in der Stadt weilten und sie auch zu empfangen gewillt waren. Gerade bei einem von ihnen war sich die Baronin da nicht so sicher.
„So mein Kind, genug den Magen vollgeschlagen! Jetzt zieh´ dich um, denn wir machen gleich noch zwei wichtige Besuche in der Stadt.“
Jasina nickte nur freudestrahlend und konnte es kaum erwarten, erneut die gewaltige Kapitale der Provinz mit ihren zahllosen Wundern erkunden zu können.
„Ah, Elissa meine Liebe, was für eine angenehme Überraschung! Wie schön, dass du wieder den Weg in die Stadt gefunden hast. Prächtig siehst du aus! Und wen hast du da denn mitgebracht?“
„Das ist meine Pagin, Jasina von Hardenstatt, die Tochter des neuen Vogtes zu Arvepass.“
Das Mädchen machte einen artigen Knicks vor der älteren Frau, welche ihr ein warmes Lächeln schenkte und die ihr sogleich sympathisch war.
„Was für ein braves Kind du doch bist. Ich bin Fredegard von Hauberach, die Witwe des Vaters Deiner Pagenmutter. Aber du kannst mich ruhig beim Vornamen nennen. Es trifft sich übrigens gut, denn ich habe auch gerade ein Kind zu Gast bei mir.“
„Ein Kind?“, fragte die Baronin irritiert.
„Ja, meine Enkelin Leonore, deine Nichte, ist mit ihrem Kindermädchen hier. Janne, komm doch einmal mit meinem kleinen Augenstern her, wir haben Besuch.“
Wenig später erschien eine junge blonde Frau mit einem Mädchen, es mochte wohl zwei Götterläufe jünger als Jasina sein, im Salon.
Fredegard stellte die übrigen Anwesenden einander vor, bevor sie zwanglos miteinander über allerlei Dinge plauderten, hatten doch gerade Baronin und Reichsedle sich doch schon eine geraume Weile nicht mehr gesehen und sich darob viel zu erzählen. Während die beiden Kinder sich auf Anhieb gut verstanden und sich nach einer Weile zum Spielen zurückzogen, verblieb Janne im Salon.
Elissas irritierten Blick richtig deutend erläuterte die Hausherrin, dass die junge Frau nicht einfach nur eine Bedienstete sondern ihre Ziehtochter sei, ihr mittlerweile genauso lieb wie ihre leiblichen Kinder und in vielerlei Hinsicht eine mehr als nur große Hilfe.
Schließlich kam Elissa auf den Anlass ihres Besuchs zu sprechen, wobei sie anfangs ein wenig verlegen wirkte.
„Nun, ‚Hilfe‘ ist ein gutes Stichwort, liebe Stiefmutter.“ Seit die beiden Frauen vor einigen Götterläufen Freundschaft geschlossen hatten, betitelte und betrachtete die Jüngere die Ältere als Zeichen der Vertrautheit so. „Aber könnten wir dies vielleicht unter vier Augen besprechen? Das Thema ist doch ein wenig, hm, delikat.“
Janne hatte die Situation sofort erfasst: „Ich wollte sowieso gerade nach den Kindern sehen. Ruf´ mich, Mutter, wenn du etwas brauchen solltest.“
Die Baronin sah dem Kindermädchen kurz hinterher, als dieses den Raum verließ. Einerseits erschien sie ihr sehr sympathisch, andererseits irritierte sie zugleich etwas an der jungen Frau, wohingegen Fredegards Antlitz echten Mutterstolz verriet.
Nachdem die beiden Adligen unter sich waren, erzählte die Jüngere von ihrem mit dem Vater ihrer Pagin gefassten Plan und der gestrigen Audienz beim Provinzherrn.
„Das alles wird sicher einiges an Gold kosten und wie du mindestens ebenso gut wie ich weißt, sind die Kassen Vellbergs alles andere als gut gefüllt. Daher-“
„Du brauchst gar nicht weiterzureden, Liebes. Natürlich helfe ich dir im Rahmen meiner bescheidenen Möglichkeiten. Das versteht sich doch von selbst. Und nein, ich brauche da keine Sicherheiten oder Zinsen; dein Wort genügt mir hierfür. Für so etwas ist Familie doch da.“
Überrascht von der ebenso unerwarteten wie großzügigen Hilfe ihrer Stiefmutter, brauchte Elissa eine Weile, um sich zu sortieren und die rechten Worte zu finden. „Das, das ist einfach großartig. Vielen Dank! Selbstverständlich bekommst du über die von dir zur Verfügung gestellte Summe einen Schuldschein von mir. Keine Widerrede! Und wenn ich irgendwas, egal was, für dich tun kann, dann lass´ es mich einfach wissen.“
Fredegard schenkte ihrem Gegenüber ein warmherziges Lächeln. „Wer wäre ich denn, einer Baronin zu widersprechen?“
Die beiden Frauen plauderten die nächsten Stunden noch über allerlei andere Dinge, während die Kinder sich mittlerweile angefreundet und für morgen verabredet hatten.
Am Nachmittag verabschiedeten sich Elissa und Jasina von ihrer Gastgeberin und neuen Freundin, wobei die Baronin versprach, dass die nächste Zusammenkunft nicht so lange auf sich warten lassen werde. Zugleich beschloss die Vellbergerin, ihren zweiten Besuch auf morgen zu verschieben. Wenn dieser auch nur halb so angenehm wie dieser hier verliefe, ging es ihr durch den Kopf, dann wäre zumindest für ihr Lehen die Finanzierung des Ausbaus der Küstenstraße gesichert.
Kurz nachdem die beiden Gäste das Haus der Reichsedlen verlassen hatten, trat Janne an die Seite ihrer Ziehmutter. „Ich hoffe, dieser Besuch war mehr als nur Zeitverschwendung?“
"Oh, durchaus. Sogar weit mehr. Dieser närrische Krüppel hat uns nämlich ein großes Geschenk gemacht.“
„Was für eines denn?“
„Eine ebenso unerwartete wie großartige Gelegenheit für uns beide.“