Geschichten:Familienbesuch II
Auf den nächsten Besuch hatte sich Elissa weitaus akribischer vorbereitet und sich auch, wie es der Form entsprach, vorher ankündigen lassen. War doch Ginaya von Alxertis eine in jeder Hinsicht ungleich größere Herausforderung als ihre Stiefmutter. Schließlich galt die Alxertis als eine der wichtigsten politischen Figuren in der Provinz, was selbst der Vellberger Baronin nicht entgangen war. Ihre Pagin Jasina hatte die Adlige jedoch in der Obhut Fredegards gelassen, deren Enkelin sich sehr über das Wiedersehen freute.
Zur Praiosstunde fand sich Elissa, angetan in ihrem besten Wappenrock – und dennoch mit dem unbestimmten Gefühl, nicht angemessen gekleidet zu sein – zur genannten Zeit im Anwesen Ginayas ein, wo man sie wortreich willkommen hieß, ihr Wein und Gebäck kredenzte und mitteilte, dass die Herrin des Hauses sie gleich empfangen werde. Dieses „gleich“ dauerte gut zwanzig Minuten, bis die Baronin in das Arbeitszimmer der Junkerin gerufen wurde. Eigentlich ziemlich ungehalten ob der ungebührlichen Warterei, ließ sich Elissa davon jedoch nichts anmerken. Nach den jüngsten Differenzen mit ihrem Gatten, ihrer langen Abwesenheit von der Reichsstadt und ihrem engen Verhältnis zum Vogt des Arvepasses – immerhin ein Parteigänger einer anderen Fraktion im Spiel der Mächtigen – konnte sie der Gastgeberin diese kleine Demütigung ihrer Person kaum verübeln. Und was für die Baronin noch wichtiger war: Sie war als Bittstellerin in dieses Haus gekommen. Und es wäre ihrem Anliegen kaum zuträglich gewesen, gleich als erstes eine Diskussion über Etikette mit der Alxertis vom Zaun zu brechen.
Nach einer kurzen und eher belanglosen Plauderei kam Elissa schließlich auf den Grund ihres unerwarteten Besuchs zu sprechen.
„Nun, werte Ginaya, ich bin hier um dir ein Angebot zu machen, dass sowohl für Vellberg als auch für deine Familie von Vorteil sein dürfte.“
„Ist das so?“ Die Junkerin zog eine Augenbraue hoch, während ihr übriges Gesicht unbewegt blieb und so die Überraschung verdeckte, die die Frau empfand, hatte sie doch mit einer solchen Gesprächseröffnung nicht gerechnet. „Nun, du hast meine Aufmerksamkeit. Und sicher auch die, wenn er denn hier wäre, meines Sohnes.“ Die kleine Spitze verfehlte ihre Wirkung bei der Baronin nicht, erstarrte ihr Lächeln doch für einen winzigen Moment zu einer Maske. Dann hatte sie sich wieder im Griff und begann über den mit dem Vogt zu Arvepass ausgearbeiteten Plan sowie dessen Vorstellung jüngst gegenüber dem Markgrafen zu erzählen.
„Eine Belebung des Handels und des Verkehrs über die Passstraße sorgt mittelfristig also für deutlich höhere Einnahmen in Vellberg, zumal mir seine Erlaucht im Gegenzug für seine Unterstützung für einen befristeten Zeitraum die Zolleinnahmen überlassen wird. Der Ausbau der Straße ist natürlich mit nicht unerheblichen Kosten verbunden. Kosten, die Vellberg allein nicht zu stemmen in der Lage ist, weswegen ich dir die Gelegenheit geben möchte, an dem Projekt als Geldgeberin, natürlich gegen eine angemessene Gewinnbeteiligung, zu partizipieren.
‚Mit anderen Worten: Du hast eine – zugegebenermaßen gute – Idee, stellst plötzlich fest, dass sie finanziell mindestens eine Nummer zu groß für dich ist und suchst nun jemanden, der dir das Geld dafür leiht.‘, ging es Ginaya durch den Kopf, während sie freundlich lächelnd antwortete: „Das klingt wirklich ungemein interessant und ich kann mir durchaus vorstellen, dich dabei zu unterstützen. Ich denke, unsere Verwalter sollten sich möglichst bald miteinander ins Benehmen setzen und die Details klären. Ich bin optimistisch, dass wir hier relativ rasch eine Einigung erzielen können.“
„Das denke ich auch. Ich werde meinen Verwalter nach meiner Rückkehr umgehend instruieren und hierher entsenden.“ Die Baronin war froh, mit Norholt da jemanden zu haben, der so farblos wie ein Eimer Wasser war, dafür jedoch mit allen darin befindlichen gewaschen.
„Gut, gut. Doch nun, so leid es mir tut, musst du mich entschuldigen, meine Teure. Ich habe gleich noch einen anderen, leider unaufschiebbaren Termin. Wir lesen dann bald voneinander, ja? Und du musst mich unbedingt rasch wieder besuchen!“
„Äh, ja. Gewiss doch.“ Elissa war von dem abrupten Ende dieser Unterhaltung ein wenig überrumpelt und auch verärgert darüber, wie Ginaya es wagen konnte, sie so von oben herab zu behandeln. Dann fiel ihr der Grund ein. Weil die Alxertis es sich leisten konnte, in jeder Hinsicht.
Gut zwei Wochen später waren die Verhandlungen zur beiderseitigen Zufriedenheit abgeschlossen und die Baronin froh, eine Übereinkunft erzielt zu haben, wenngleich der Preis, den Ginaya ihr dafür abgetrotzt hatte, wahrlich kein geringer war. Wohl auch deshalb verspürte Elissa wenig Neigung, ihre Schwiegermutter in näherer Zukunft erneut zu treffen.