Geschichten:Familiengeschichten aus Hartsteen - Fieberträume
Burg Orbetreu, 01. Travia 1040 BF
„Die Wächter…sie müssen geeint stehen…der Bund verlangt es…Hoffnung kann wachsen…das Blut der Wächter ist stark…im Norden…im Osten…im Westen…im Süden…insbesondere nach Süden muss der Blick der Wächter gehen…einer von zweifachem Wächterblut wird kommen…die Erneuerung des Bundes…Einigkeit unter den Wächtern…nur die von altem Blute können verstehen!“
Oderik schaute irritiert auf das Lager, auf welches man Ludegar gebettet hatte. Er hatte hohes Fieber, als man ihn am Morgen endlich fand. Der Perainegeweihte aus dem Ort hatte sich redlich um ihn bemüht. Doch im Fieber sprach Ludegar immer wieder diese kruden Worte. Oderik griff Ludegars Hand, während der Geweihte erneut die Stirn befühlte.
„Das Fieber ist immer noch sehr hoch, Euer Wohlgeboren!“ sprach der Geweihte ruhig. Oderik saß zur Linken des Lagers. „Wisst Ihr, was er da immer wieder redet, Euer Gnaden?“ fragte Oderik. Der Geweihte schüttelte seinen Kopf. „Ich bedauere, Euer Wohlgeboren. Meine Familie stammt nicht von hier. Daher kenne ich mich nicht mit örtlichen Geschichten aus.“ Oderik stutzte. „Wie kommt Ihr auf örtliche Geschichten?“ Der Geweihte machte einen weiteren Wadenwickel fertig, während er antwortete: „Nun, ich dachte, dass Euer Bruder hier eine örtliche Sage zitiert. Ich meinte, so etwas aus seinen Worten heraus gehört zu haben.“
Oderik grübelte lange vor sich hin, doch er war sich sicher, noch nie von so etwas gehört zu haben. Er drückte weiterhin die Hand seines Bruders und hoffte auf diese Art, seinem Bruder eine Stütze sein zu können. Immer wieder wiederholte dieser die Worte, welche für Oderik keinen Sinn ergaben. Seine Gedanken schweiften ab. Er musste an ihre Kindheit denken und daran, wie ihre Mutter ihn ermahnt hatte, auf den vier Jahre jüngeren Ludegar acht zu geben. Er erinnerte sich daran, wie er sich als Achtjähriger beklagt hatte, dass der kleine Bruder ihm überall hin folge. Jetzt wünschte er sich, dass ihm der Bruder folgen könnte. Doch die Götter hatten anders entschieden. Während Oderik in Hinterwalden eine ruhige Knappschaft verbrachte, war Ludegar in Natzungen Knappe dreier Baroninnen gewesen. Und dann war er im Boron vor acht Jahren zu diesem schicksalhaften Ritt nach Orbetreu aufgebrochen. Bevor seine Mutter verstorben war, hatte Oderik ihr das Versprechen gegeben, auf den kleinen Bruder acht zu geben. Das ist Dir ja wunderbar gelungen, schalt sich Oderik selbst.
„Euer Wohlgeboren!“ sanft rüttelte der Geweihte an Oderik. Der Perainegeweihte blickte ihn an. Oderik schaute ihn aus verschlafenen Augen an. Offenbar war er eingeschlafen. Kurz überkam ihn Panik und er blickte sich um. Sein Bruder lag ruhig auf dem Bett. Sein Atem schien ruhig und gelassen zu sein. „Euer Wohlgeboren!“ sprach der Geweihte erneut sanft.
Oderik straffte sich und schaute zu seinem Bruder. „Das Fieber Eures Bruders ist zurück gegangen. Er hat sogar kurz mit mir gesprochen.“ „Was? Warum habt Ihr mich nicht geweckt?“ entfuhr es Oderik. Achselzuckend sprach der Geweihte: „Nun, das habe ich versucht!“ Oderik schaute betreten drein. „Was hat mein Bruder gesagt?“ Der Geweihte setzte sich nun Oderik gegenüber. „Nun, er wollte wissen, was geschehen sei. Er konnte sich nur daran erinnern, dass sein Pferd durchgegangen ist und er aus seinen Halterungen gerissen wurde.“ Oderik schaute erschrocken: „Sonst weiß er nichts? Nichts zu seinen Träumen?“ Der Geweihte schüttelte den Kopf. „Ich bedauere. Nein! Und auch wenn er kurzfristig wach war, so wird er noch einiges an Ruhe benötigen. Und, wenn Ihr die Bemerkung erlaubt, Ihr solltet Euch jetzt auch etwas ausruhen!“
Oderik stand auf. Sein Bruder hatte es geschafft, das war eine beruhigende Nachricht. „Vermutlich habt Ihr Recht! Doch holt mich bitte, wenn er das nächste Mal länger wach sein sollte!“ Als Oderik das Krankenlager seines Bruders verließ, kündigten die ersten Strahlen der Sonne das Licht eines neuen Tages an.
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