Geschichten:Feuer und Schatten - Aus den Schatten in den Schatten
Erlgard hatte sich die Gräfin über die Schulter geworfen und taumelte auf die Mannpforte zu, die sie mit Dexter vorhin hatte durchschreiten wollen. Die Gräfin wog nicht mehr viel, aber Erlgard war selbst einer zierliche Person und konnte kaum noch gehen vor Schwäche.
Da! War da nicht jemand an der Pforte?
Ein Schatten stieß die Tür auf, verharrte, blickte in den Hof, an dessen Ende ein Feuerschein gelbes Licht verbreitete. Die Kemenaten brannten.
„Psst“, machte der Schatten, „Gragelsfort?“
Erlgard verharrte kurz, dann stapfte sie entschlossen vor. Natürlich: Es war Lechmin, die sich fragte, wo Dexter und sie so lange blieben.
„Lechmin, hier, Eure Mutter.“ Erlgard brach and er Pforte regelrecht zusammen und ließ die Gräfin mehr in Lechmins Arme fallen, als dass sie sie ihr übergab.
„Mama? Mama!“ Lechmin beugte sich bestürzt über ihre leblose Mutter.
Ohne Vorankündigung trat Dexter aus dem Schatten: „Wir müssen hier weg, so schnell wie möglich. Rudon tobt, Baldus lebt, und bald wird die ganze Burg wach sein, um den Brand zu löschen.“ Er wollte die Gräfin aufnehmen, aber Lechmin schob seine Hände beiseite. „Ich bin kräftiger als Ihr, Magister, halten zu Gnaden.“ Damit nahm sie ihre Mutter über die Schulter und verschwand durch die Mannpforte, Dexter und Erlgard berührten einander kurz, sahne sich tief in die Augen, dann folgten sie eilig.
Unten warteten Adhemars Freunde mit Pferden. Stadttore gab es nicht mehr, die die Flucht hätten behindern können.
Auf der Burg hingegen brannten die beiden Stockwerke über den Kemenaten völlig aus. Der Dachstuhl brach ein, und die verkohlten Dachbalken zeigten am Morgen in den Himmel wie die Rippen eines aufgebrochenen Leibes. Man würde den Brand irgendwie erklären müssen. Am besten mit dem Wahnsinn der Gräfin, denn in ihrem Gemach war das Feuer ja ausgebrochen.
Aber was, wenn die Gräfin das doch überlebt hatte und man der Lüge überführt würde, dass sie eben nicht die verkohlte Leiche auf dem Flur gewesen war? Wenn sie womöglich wiederkäme?
Rudon Langenlob war so zornig und so wütend, dass ihm jeder aus dem Weg ging.
In seinem Kopf hallte nicht nur die Frage, ob die Gräfin noch lebte, sondern auch: Wer war Flaygor Awarißt? Was konnte er? Und würde er ihm die Herrschaft über die Katakomben doch noch entreißen können?
Lechmin kauerte traurig neben dem Leichnam ihrer Mutter. Rumhilde hatte die Nacht nicht überlebt, sie war gestorben, ohne dass die Tochter hätte sagen können, wann. Tränen rannen ihr über die Wangen, ihr Schuldbewusstsein war ihr deutlich anzusehen. Adhemar hockte sich neben sie, nahm sie in den Arm.
„Ich hätte sie nicht auf der Burg lassen dürfen“, schluchzte Lechmin.
„Wir mussten“, antwortete Bardo von Vairningen. Als Ältester der Schar um Adhemar, der Erben Luringans, war er es oft, der solche Dinge sagte. „Und wir wussten, dass dein Bruder eure Mutter geliebt hat. Ihr ist nie etwas geschehen, wenn er da war. Und ihr wäre auch nichts geschehen, wenn er da gewesen wäre.“
„Dennoch. Ich hätte ihr helfen müssen. Ihr beistehen müssen. Ich habe versagt.“
„Lechmin, die Magier und du, ihr habt der Gräfin nicht das Leben, aber die Seele gerettet. Das ist das wichtigste.“ Adhemar drückte seiner Base aufmunternd die Schultern.
„Was machen wir nun?“, fragte Elvena von Leuenmoos.
„Wir bestatten sie auf dem Boronanger von Waldwiesen, das ist der nächste Tempel. Dann verschwinden wir wieder im Schatten des Waldes“, bestimmte Maya von Luring.
„Gut“, nickten Lechmin und Adhemar gleichzeitig.
„Und Ihr?“, wollte Adhemar an die Magier gewandt wissen.
Erlgard und Dexter sahen einander an, fassten sich dann an die Hände. „Wir werden zunächst zu unserer Tochter nach Sancta Ancilla gehen, dann zu unserem Sohn nach Punin“, antwortete Dexter. „Und dann kommen wir wieder und ersäufen Rudin Langenlob und seine Brut“, vervollständigte Erlgard.
„Ihr könnt beschwören, was Ihr gesehen habt?“, hakte Vairningen nach.
„ja“, bestätigten die Magier gleichzeitig.
„Dann muss es Drego erfahren“, warf Adhemar ein.
„Nein, nicht sofort“, widersprach Lechmin, „das wäre womöglich zu gefährlich für ihn.“
„Wenn er nicht einer von ihnen ist“, gab Ritter Ingmar zu bedenken und warf einen Blick auf Lechmin, der sehr deutlich zeigte, dass seine Gefühle für die Grafentochter noch lange nicht erloschen waren.
„Ist er nicht“, widersprach Lechmin. „Und jetzt brechen wir nach Waldwiesen auf und verabschieden meine Mutter.“
