Geschichten:Feuer und Schatten - Fast
Der Gang war diffus erleuchtet. Die Kandelaber an den Wänden flackerten, an jedem war nur eine Kerze entzündet.
„Hochwohlgeboren“, brummte der Koloß. „Gräfin Rumhilde? Ich bringe Euch Euren Schlaftrunk.“
Hinter der Tür zum Turmzimmer, in dem die Altgräfin wohnte – oder besser: eingesperrt war – hörte der Riese ein Tapsen und Rascheln. Die Gräfin bewegte sich zur Tür. Ein leises Wimmern entwich ihrer Kehle. Ein Wimmern der Erleichterung, denn diese tiefe, brummende Stimme war es, die ihr Erlösung brachte. Ruhe und ein Ende der Qualen des Tages. Nur wenn der Riese mit seinen rußigen Augen nach ihr sah, mit seiner schartigen Stimme mit ihr sprach, mit seinen mörderischen Pranken ihre alten Hände hielt, dann kehrte Stille in die gemarterte Seele Rumhildes von Luring ein.
Seitdem ihr Mann tot war, gefallen in einem fernen Land, war der einzige Paladin, der vor ihrer Tür wachte, der Küchenmeister auf Burg Luringen. Niemals war ein Leibritter unpassender gewesen als dieser gefühllose Fleischkoloss, dieser Katakombenschlächter, der ein schmutziges Heer von Dienern wie Kellerasseln kommandierte inmitten eines Rattenheeres, das die Gedärme der Burg bevölkerte. Aber hier war er: Flaygor Awarißt, Küchenmeister mit fettiger Lederschürze, grindigem Schädel und bösen Augen, dessen Ogerhände so vielen Kreaturen bereits den Tod gebracht hatten, Flaygor Awarißt, der über die Kellergeschosse herrschte wie ein Fürst der Unterwelt und sie frei hielt von dem Geschmeiß, das die erleuchteten Gänge und Säle der Burg im Tageslicht erobert hatte. Flaygor Awarißt, der letzte Getreue Graf Danos‘ und – heute umso wichtiger – der Gräfin Rumhilde.
Sie hatte die Tür erreicht und griff durch die aufklappbare Luke nach draußen. Wie jeden Abend nahm sie aber zunächst nicht den Kelch mit dem beruhigenden Kräutersud, sondern die Pranke des Riesen, um sie zu halten wie eine Ertrinkende den Rettungsring.
„Es ist still, Flay“, wisperte die Gräfin, die nur noch entweder flüsterte oder schrie, als hätte sie mit dem Verstand auch ihre Stimme verloren.
„Euer Sohn ist verreist. Zur Tsafest Baron Nimmgalfs. Er hat fast alle mitgenommen.“
„Fast alle?“
„Ja, fast“, brummte Flaygor.
„Fast!“ triumphierte Rudon Langenlob, der den Gangbetreten hatte und mit scheinbar übermenschlichem Gehör das Wispern verstanden hatte. Rudon hatte eine schlanke Klinge gezogen und klopfte mit ihr ungeduldig an seine Wade, während ein dämonisches Grinsen in seinem Gesicht stand. „Fast“, wiederholte er fest, während hinter ihm Ungolf von Luring-Prestelberg in den Gang schnürte – die Haare klebten ihm dunkelgrau und fettig am Kopf, die Kleidung hing in schmutzigen Fetzen, die Fingernägel starrten gelb und lang wir Krallen, die Augen leuchteten rot, wo sie hätten weiß sein sollen. Speichel rann von den Lefzen dieser Kreatur, die einen Tei ihrer Menschlichkeit eingebüßt hatte. Im Schatten Ungolfs schlich auch Dr. Baldus in den Gang, er hielt ein langes Stilett in der Linken, sah aber nicht so aus, als wollte er in der kommenden Konfrontation handgreiflich werden.
