Geschichten:Fuchsbacher Umwege - Um der Ehre Willen
Burg Oberhartsteen, Ende Travia 1037
Redenhardt von Fuchsbach wartete auf das Signal, bemüht sein Pferd zu zügeln, das unruhig von einem Bein aufs andere tänzelte und den Kopf immer wieder unwillig zur Seite warf. Gleichzeitig versuchte er sein Gegenüber am anderen Ende der Schranken im Blick zu behalten. Wie er selbst war auch Helmbrecht von Steinfelde beritten, in voller Rüstung und mit Übungslanze und Schild gewappnet. Einige Leute, vor allem heranwachsende Burschen und Maiden aus dem nahen Städtchen, hatten sich nach Beendigung ihres Tagwerks am Rand der Turnierwiese zu Füßen von Burg Oberhartsteen eingefunden, um den Knappen bei ihren Übungen zuzusehen, welche sich dadurch noch mehr als gewöhnlich angespornt sahen. Ihre Rufe und Gelächter hallten über das Gelände. Redenhardt fragte sich, ob Khorena bei ihnen war. Die ganze letzte Woche hatte er immer wieder an ihrem geheimen Treffpunkt gewartet, ohne dass sie dort oder irgendwo sonst aufgetaucht wäre.
Dann sah Redenhardt, wie der Schwertmeister das Tuch fallen ließ und gab seinem Gaul die Sporen, direkt auf den ihm entgegenkommenden Helmbrecht zu. Er senkte die Lanze und zielte auf den Schild des anderen, während er sich im Sattel nach vorn beugte und den eigenen Schild anwinkelte, wie er es so oft geübt hatte. Schnell kamen die Kontrahenten einander näher. Redenhardt fühlte, wie die bekrönte Lanzenspitze des Gegners über seinen Schild glitt, doch im gleichen Moment traf auch er. Lanzensplitter schwirrten durch die Luft und es folgte ein dumpfer Schlag. Er ließ den nutzlosen Lanzenschaft fallen, verlangsamte seinen Ritt und wendete, um einen Überblick zu gewinnen. Der Steinfelder lag im Dreck der Tjostenbahn und versuchte sich mit rudernden Armen aufzurappeln, ein Anblick den Redenhardt an einen Käfer erinnerte, den man auf den Rücken gedreht hatte.
Er sprang vom Pferd und nahm den Helm ab, während schon wieder die Stimme des Schwertmeisters dröhnte, mühelos die Rufe der applaudierenden und johlenden Zuschauer übertönend: „He, Steinfelde, willst du etwa den ganzen Tag faul auf der Wiese rumliegen? Hoch mit dir! Und du, Fuchsbach, bilde dir nur nicht zu viel darauf ein. Es hängt nicht jeder wie ein nasser Sack auf seiner Mähre wie der werte Helmbrecht.“
Redenhardt wusste, dass man derlei Anwürfe besser ohne die Miene zu verziehen über sich ergehen ließ. Der Mann hatte einen denkbar schlechten Charakter und ein Mundwerk, das einem al’anfanischen Sklavenschinder gut zu Gesicht stünde, aber, und das hatten sie alle immer wieder feststellen müssen: er war ein verflixt guter Kämpfer.
„Verzeiht, ich muss Euch euren siegreichen Knappen entführen, Schwertmeister. Der Truchsess verlangt ihn zu sehen“, tönte es hinter ihnen und sie drehten sich nach der Sprecherin um. Es war Korgunde von Zoltheim, die Hofmeisterin auf Burg Oberhartsteen, die weiter insistierte, „Es ist wichtig und eilig.“
„Na, da kann ich wohl kaum was sagen, oder?“, motzte der Ausbilder, spuckte aus und wandte sich dem auf die Beine kommenden Helmbrecht zu, „Los, los. Zwei Runden um die Tjostbahn, aber dalli! …He, lass ja den Helm auf!“
„Komm!“, die Frau ging schnellen Schrittes vorneweg und Redenhardt folgte mit seinem Pferd am Zügel. Eine Weile gingen sie schweigend, doch schließlich fragte er: „Worum geht es denn?“
„Kann ich noch nicht sagen“, lautete die einsilbige Antwort. Bald schon hatten sie die Tore durchschritten, das Ross im Stall abgegeben und den Hof überquert, auf dem geschäftige Betriebsamkeit herrschte. Einigen Bauleuten ausweichend, die mit der Ausbesserung der Pallasfassade beauftragt waren, traten sie durch dessen Pforte. Dort stießen sie beinahe mit der Hausritterin Rosshilde von Ibelstein zusammen, die eine zweite Person vor sich herschob, welche beim Gehen nur vor sich auf den Boden starrte.
Redenhardt erschrak: „ Khorena?“
Bei der Nennung ihres Namens sah sie kurz auf. Sie sah bleich und übernächtigt aus. Er meinte, Angst und Verzweiflung in ihren Blick lesen zu können, doch schnell senkte sie den Kopf und ging wortlos an ihm vorbei.
„Was ist los?“, rief er ihr nach und wollte umdrehen, doch die Hofmeisterin packte ihn am Arm: „Keine Zeit jetzt für Schwätzchen mit dem Gesinde. Du weisst doch, der Truchsess wartet nicht gern.“
Dass irgendetwas überhaupt nicht stimmte, war Redenhardt sofort klar, als er in den kleinen Ratssaal trat und in die ernsten Mienen der Anwesenden blickte: der Truchsess Retodan von Hartwalden-Hartsteen, dazu der Kammerherr Halwart von Gnisterholm und die Zuchtmeisterin Isilda Klausentrift. Die drei saßen in der Fensternische und hatten gestrenge Mienen aufgesetzt.
„Der Knappe Redenhardt von Fuchsbach“, kündigte die Hofmeisterin an und schloss die Tür hinter ihm.
Er verneigte sich vor den Versammelten: „Ihr habt mich gerufen?“
„In der Tat“, eröffnete die Zuchtmeisterin mit einem schneidenden Unterton das Gespräch, „Denn wie ich gehört habe, erwartet die unverheiratete Dienstmagd Khorena aus Oberhartsteen ein Kind.“
„Was?!“, Redenhardt erstarrte in Verwirrung. War das der Grund für ihr Fernbleiben? Warum hatte sie ihm nichts gesagt? Und warum wusste die Zuchtmeisterin davon?
„Und sie sagte aus, dass das Kind in ihrem Leib von einem Knappen sei: von dir, Fuchsbach“, ergänzte der Truchsess, „Und darum soll es jetzt gehen. Denn wenn das stimmt, wäre das nicht nur in den Augen des Grafen eine Ungeheuerlichkeit.“
Der Knappe meinte seinen Ohren nicht zu trauen, doch brachte er keinen Ton heraus.
„Nun, auf das Geplapper einer jungen naiven Magd muss man normalerweise nicht viel geben, meldete sich der Kammerherr zu Wort, „Doch ich habe festgestellt, dass der junge Herr hier mehr mit der Dienstmagd zu schaffen hatte, als zwischen Adel und Volk gemeinhin als schicklich gilt.“
„Aber das ist nicht wahr, ich…“, wollte Redenhardt einwerfen, doch der Gnisterholmer fuhr dazwischen: „Willst du etwa den Wegevogt der Lüge bezichtigen? Bevor er heute Mittag aufgebrochen ist, hat er mir versichert, dass er Zeuge eines solchen Vorgangs gewesen sei.“
„Aber…“, Redenhardt verstummte. Er erinnerte sich: ein lauer Sommerabend im Burggarten, das Fangspiel, der Wegevogt und die Hartsteen Hand in Hand, „…aber da war…“
Erneut wurde er unterbrochen – diesmal von der Hofmeisterin: „Einmal mehr wird also durch das unverantwortliche Handeln eines Knappen der gräfliche Hof in Verruch gebracht.“
„Wir wissen sehr genau, dass der Graf einiges auf dich hält, denn er hat dich trotz der skandalösen Vorkommnisse um deinen Onkel nicht fortgeschickt. Nun aber liegt die Sache anders: Du selbst hast durch dein Handeln Schande über dich und deine Familie, über den gräflichen Hof und den Grafen selbst gebracht“, stellte der Kammerherr fest und der Truchsess schüttelte traurig den Kopf: „Dein Vater würde sich im Grabe wälzen, wenn er das wüsste.“
„Ein jeder, der von diesem Vorkommnis hört, muss doch glauben, dass hier mit Billigung Graf Luidors tiefste Sittenlosigkeit herrscht. Und das, wo doch die Knappen am Grafenhof die Blüte der Hartsteener Ritterschaft sein sollen“, nahm die Hofmeisterin den Faden wieder auf, „Du wirst verstehen, dass du unter diesen Umständen nicht in Oberhartsteen bleiben kannst.“
„Kurz: dir bleibt die Wahl, auf welche Weise du von hier fortgehen wirst“, brachte es Retodan von Hartwalden-Hartsteen auf den Punkt, „Entweder du nimmst noch heute deinen Abschied, oder es wird uns nichts übrig bleiben, als ein förmliches Verfahren einzuleiten, sobald es dem Grafen wieder besser geht. Und nach Lage der Dinge wird das dazu führen, dass du mit Schimpf und Schande vom Hof entfernt wirst. In derlei Fragen versteht Graf Luidor keinen Spaß. Also?“
Redenhardt stand unter dem Eindruck der vorangegangenen Worte wie betäubt, seine Ohren rauschten. Er blickte in die Mienen der Amtsträger, aber er fand nichts, was ihn in irgendwie aufgerichtet hätte. Der Kloß im Hals ließ seine Antwort schließlich wie ein heiseres Krächzen anmuten: „Ich werde Oberhartsteen noch heute verlassen… um der Ehre willen.“
„Gut. Wir haben es gehört. Du kannst gehen.“
„Und Khorena? Was passiert mit ihr?“, wagte Redenhardt sich noch zu erkundigen, als die Hofmeisterin die Tür schon geöffnet hatte.
„Das dürfte jetzt nicht mehr von Belang sein, was?“, Halwart von Gnisterholm sah fast belustigt drein und die Zuchtmeisterin meinte nur handwedelnd: „Man wird sich um sie kümmern.“