Geschichten:Gerichtstermin in Treilin
Alissa war wirklich enttäuscht. Sie hatte tatsächlich ein wenig mehr Verständnis und Vertrauen von ihrer Tante erwartet. Stattdessen waren nun beide sauer aufeinander und das machte Alissa ein wenig zu schaffen. Sie mochte es überhaupt nicht, wenn sie sich nicht ernst genommen fühlt und genau das war passiert.
Nachdem Alissa heute dann ihre Andacht beendet hatte kam Arth Baldus, der Schreiber der Baronin auf sie zu. „Euer Hochgeboren, ich habe Anweisungen für das Gerichtsverfahren in Treilin für euch.“ Alissa ging mit dem Sekretarius in eines der Schreibzimmer und dieser erklärte ihr, wie das Gerichtsverfahren aussehen sollte.
„Das wäre ja nicht eure erste Verhandlung und Eure Tante setzt hohe Erwartungen in euch. Wie mir die Baronin bereits berichtete, habt ihr bereits mit ihr über das Gerichtsverfahren gesprochen?“ Alissa nickte, hielt sich aber sehr wortkarg zurück. Nachdem die Einzelheiten besprochen waren, wandte sich der Sekretarius noch in einer anderen Sache an Alissa: „Euer Hochgeboren, ich möchte Euch nicht zu nahe treten, aber eure Tante macht sich große Sorgen um euch. Vielleicht solltet ihr mit eurer Tante noch einmal sprechen.“ Alissa nickte wieder und sagte: „Wenn meine Tante mich denn verstehen würde und mir einmal ein wenig Vertrauen entgegen brächte, wäre auch alles weitere kein Problem und ihre Sorgen wären unbegründet. Ihr könnt meiner Tante gern ausrichten, dass es mir gut geht. Sobald es denn an der Zeit ist, werde ich ihr erzählen, was passiert ist. Doch alles zu gegebener Zeit.“ Baldus stand auf, nickte kurz und verließ dann den Raum.
Alissa dachte wieder an das Gespräch mit ihrer Tante und wieder machte sich die Enttäuschung in ihr breit. Es dämmerte bereits draußen und Alissa nutzte die Gelegenheit, dass sie sich gerade in einem Schreibzimmer aufhielt. Zum gemeinsamen Abendessen mit der Baronin ließ die junge Frau sich nicht blicken, sie war viel zu sehr damit beschäftigt, einen Brief zu verfassen.
Als sie fertig war, faltete sie den Brief zusammen und versiegelte ihn. Da sie jedoch kein eigenes Siegel besaß, ritzte sie mit dem Fingernagel ihre Initialen, A.E., in das noch weiche Wachs.
Als das Siegel dann getrocknet und fest war, begab sie sich zu einem der Boten und wies ihn an, den Brief nur an eine bestimmte Person auszuhändigen. Sie beschrieb ihm ebenfalls den Weg und den Ort und schickte ihn dann mit guten Wünschen auf den Weg. Sie selbst begab sich in ihr eigenes Zimmer und dort ins Bett, denn morgen sollte ein ereignisreicher Tag werden. Irgendwie ahnte Alissa bereits, dass in Treilin etwas Unerwartetes passieren würde.
Am nächsten Morgen war Alissa schon früh auf den Beinen. Die Nacht verlief recht unruhig und sie hatte sehr schlecht geschlafen. Und auch ihr Kind schien keine Ruhe zu finden. Es trat mit Leibeskräften immer wieder nach Alissas Bauchdecke. Sie bereitete sich auf die bevorstehende Verhandlung vor und ging alle Punkte, die sie mit Baldus besprochen hatte, noch einmal im Geiste nach.
Als sie sich dann auf den Weg in die Halle machte, begegnete sie dort auch der Baronin. Beide Frauen sahen sich unverwandt an, brachten aber jeweils nur einen genuschelten Tagesgruß der Anderen entgegen. Scheinbar waren die Differenzen des vorherigen Tages noch nicht überwunden und Tante und Nichte schwiegen sich an. Das Schweigen steigerte die Spannung im Raum und Alissa fühlte sich immer unwohler, wobei sie jedoch nicht genau sagen konnte, ob das Unwohlsein von den Unstimmigkeiten mit ihrer Tante herrührte oder aber ob die beinahe durchwachte Nacht daran schuld war. Als die Stimmung im Saal beinahe zum Zerreißen gespannt war, betrat Ole den Saal. „Eure Hochgeboren, die Kutsche ist bereit. Wir können sofort aufbrechen. Die Rädelsführer befinden sich bereits auf dem Weg nach Treilin und werden in Kürze dort eintreffen.“ „Danke, Ole“, antwortete die Baronin, warf ihrer Nichte einen Blick zu und bedeutete ihr, sich zur Kutsche zu begeben. Alissa atmete auf. Sie war froh, endlich dieser gequälten Stille zu entgehen. Die Baronin selbst verzichtete darauf, ihre Nichte nach Treilin zu begleiten, schickte aber Baldus mit, der ein wenig den Überblick behalten sollte. Mit diesem kam sie zumindest zurzeit etwas besser zurecht, als mit ihrer Tante.
So ging es dann auf etwas holprigen Wegen nach Treilin. Alissa wusste genau, warum sie sonst lieber selbst ritt. Kutschen waren einfach nicht ihr Ding. Jedes Steinchen und jeder Ast auf dem Weg wurde von der Kutsche überrollt und schlug sich bei Alissa in derben Rückenschmerzen nieder. Endlich in Treilin angekommen hatte Alissa große Mühe, sich aus der Kutsche zu bewegen. Alles schmerzte, entweder vom Sitzen oder aber von den vielen Stößen in den Rücken. In Treilin selbst war auf dem Marktplatz bereits alles vorbereitet. Die Rädelsführer standen gefesselt nebeneinander und es scharten sich bereits Unmengen von Leuten um die Männer.
Alissa hatte noch einen Moment Zeit, durchzuatmen und alles noch einmal im Kopf durchzugehen. Sie zog sich die Richterrobe über, die allerdings über ihrem Bauch ein wenig spannte. Aber es half alles nichts. Sie musste nun da raus und eine Verhandlung abliefern, die den Leuten zeigen sollte, was mit Aufständischen passiert. Also ging sie auf ihren Richterstand zu, nahm Platz und ließ die Verhandlung beginnen.
Baldus las die Anklage gegen die Rädelsführer aus Oberhainen vor und Alissa fragte die Männer, was sie zu ihrer Verteidigung vorzubringen hätten. Als einer der Männer anfing zu reden, durchzuckte Alissa ein stechender Schmerz. Sie konnte nicht zuordnen, was das zu bedeuten hatte und versuchte, ruhig zu bleiben, hatte jedoch Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren. Sie fuhr mit der Verhandlung jedoch fort. „Das, was Du da redest, ist purer Unsinn. Das weißt Du so gut wie ich. Die Baronin von Erlenstamm war, ist und bleibt eine ehrbare Frau. Und irgendwelche wilden Gerüchte um ein Untotendasein verbitte ich mir. Das ist eine glatte Lüge! Also weiter im Text. Noch andere fadenscheinige Ausreden?“ Alissa blickte die Angeklagten an. Als einer der anderen Männer vortrat, um zu sprechen, atmete Alissa scharf ein, denn wieder durchfuhr sie ein starker Schmerz. Der Mann hielt inne, doch Alissa winkte ab. „Fahr fort. Oder hast du nichts vorzubringen?“ Der Mann stotterte eine Erklärung, doch Alissa war mit ihren Gedanken ganz woanders. Sie fragte sich, woher diese Schmerzen kommen könnten, bis es ihr schließlich fast wie Schuppen von den Augen fiel.
Der Mann endete und Alissa ergriff wieder das Wort: „Und wieder eine fadenscheinige Begründung. Keiner von euch konnte mir eine vernünftige Begründung für euer Handeln geben.“ Alissa hielt inne, um die erneute Schmerzwelle niederzukämpfen. Baldus sah, dass die Nichte der Baronin sehr blass geworden war, konnte das aber nicht so recht deuten. Und Alissa fuhr fort: „Mein Urteil ist klar: Ihr werdet Erlenstamm verlassen und in die Verbannung nach Al’Anfa gehen. Ihr werdet auf der Reise dorthin alles Weitere erfahren und diese sogleich antreten. Die Verhandlung ist geschlossen.“
Ein Rumoren machte sich unter den Leuten breit und Baldus fragte sich, warum Alissa die Verhandlung so kurz gehalten hatte, da es eigentlich völlig anders abgesprochen war. Alissa selbst machte sich daran, vom Richterstand herunterzusteigen und krümmte sich wieder. Baldus kam herangeeilt um im Fall des Falles die junge Frau abzufangen. „Euer Hochgeboren, ist Euch nicht gut?“ Baldus klang ein wenig besorgt, wenn aber trotzdem doch immer noch sehr korrekt.
„Wir müssen los, Baldus. Meine Tochter hat es nun doch etwas eiliger, als ich dachte.“ Baldus wurde ein wenig hysterisch, denn er wollte auf keinen Fall, dass er als Geburtshelfer herhalten musste. Also wies er den Kutscher an, vorzufahren und half Alissa beim einsteigen.
Auf der Rückfahrt machten Alissa die Stöße von den Steinen auf dem Weg nichts mehr aus, denn sie war mit etwas völlig anderem beschäftigt. Sie versuchte, so oft die Schmerzen kamen, diese niederzukämpfen, doch immer wieder schlich sich ein leises Wimmern über ihre Lippen. Baldus hieß den Kutscher, schneller zu fahren und sie erreichten recht schnell die Burg Freudenstein. Der Sekretarius stürmte förmlich aus der Kutsche und ließ so schnell wie möglich den Leibarzt der Baronin kommen. Der Aufruhr, der inzwischen im Hof herrschte, machte auch die Baronin aufmerksam. Sie fragte sich, was jetzt schon wieder los sei und ging zu ihrem Fenster, um die Ursache des Aufruhrs zu ergründen.
Im Hof sah sie die Kutsche, mit der vor etwa drei Stunden ihre Nichte und der Sekretarius nach Treilin aufgebrochen waren. Sie wunderte sich, warum sie schon wieder zurück waren. Gerade, als sie ihr Zimmer verlassen wollte, lief ihr einer der Burschen entgegen. „Junge“, rief sie den Burschen. „Was ist da draußen los?“ Der Bursche war völlig verwirrt und entgeistert, da die Baronin ihn direkt ansprach. „Ähhm… Euer Hochgeboren… ähhm… Nichte… Sekretarius… Kind…“ Der Junge stotterte und nuschelte so fürchterlich, dass die Baronin kaum etwas verstand. Sie winkte ihn fort und machte sich auf den Weg in den Hof.
Alissa indes quälte sich beinahe aus der Kutsche und konnte sich kaum auf den Beinen halten. Der Leibarzt, der inzwischen bei der Kutsche eingetroffen war, nahm sich Alissa an und geleitete sie ins Innere der Burg Freudenstein. Dort trafen sie dann auch auf die Baronin, die ihre Nichte ein wenig verwirrt ansah. „Da hat es jemand eilig, das Licht Deres zu erblicken“, umschrieb der Leibarzt und die Baronin zog erstaunt die Brauen hoch. „Ist es tatsächlich schon soweit?“ Thalionmel konnte es noch nicht ganz glauben. „Natürlich, oder meinst Du, ich habe zum Spaß solche Schmerzen?“, fauchte Alissa ihre Tante an. Die Baronin sah ihre Nichte ein wenig verwundert an, grinste dann aber, auch wenn sie über das Verhalten Alissas etwas empört war.
Der Leibarzt geleitete Alissa in ihr Zimmer und wies sie an, sich auf das Bett zu legen. Die Baronin machte Anstalten, ebenfalls Alissas Zimmer betreten zu wollen, doch der Leibarzt war der festen Überzeugung, dass das eher hinderlich wäre. So war die Baronin, wie alle anderen auch, zum Warten verdammt.
Mehrere Stunden schritt die Baronin vor dem Zimmer auf und ab, während von drinnen diverse Wimmerlaute und andere Geräusche zu hören waren. Doch kein Kindergeschrei, worauf die Baronin schon seit einiger Zeit hoffte.
Stattdessen zogen sich Stunde um Stunde wie Gummi und hin und wieder schickte der Leibarzt nach einer Magd, die frisches und heißes Wasser brachte. Doch der Baronin verweigerte er weiterhin den Zutritt zu dem Zimmer. Und nur kurz konnte Thalionmel einen Blick auf ihre Nichte erhaschen, die völlig blass und schweißnass im Bett lag und nach Atem rang. Scheinbar ging es Alissa schlechter, als die Baronin zunächst vermutet hatte.
Indes rang Alissa in ihrem Zimmer mit den Schmerzen, ihren Gedanken und flehte die Zwölfe an, die Geburt schnell hinter sich bringen zu können. Der Leibarzt kümmerte sich um die junge Frau so gut es ging, doch auch er vermochte es nicht, Alissa diese unsäglichen Schmerzen zu nehmen.
Indes ging in einem Boronkloster ein Brief ein, der für Robîn von Erlenstamm bestimmt war. Der Golgarit erbrach das Siegel und begann, die Handschrift seiner Cousine zu lesen:
- Lieber Robin,
- ich bin mir nicht sicher, ob Du bereits Kunde davon hast, aber ich bin schwanger. Da ich mich bei unserem Herrn Boron in Ungnade gestürzt habe und sühne, ist meine Tochter unserem Herrn versprochen.
- Da ich Dir vertraue, möchte ich, dass Du Dich dem Kinde annimmst und es sicher in das nächste Boronkloster bringst, wo sie im Glaube unseres Herrn erzogen werden soll und ihm fortan dienen möge.
- Meine Niederkunft steht kurz bevor und daher bitte ich Dich, Dich so schnell wie möglich auf den Weg zur Burg Freudenstein zu machen.
- Mögen Dich die Zwölfe sicher auf Deinem Weg begleiten.
- Deine Alissa
Robin ließ den Brief sinken. Natürlich wusste er bereits, dass ein Kind in den Dienst Borons gestellt werden sollte. Und er wusste auch, dass es sich um das Kind seiner Großcousine Alissa handelte. So machte er sich daran, Reisevorbereitungen zu treffen und sich auf den Weg nach Erlenstamm zu begeben.
Die Baronin von Erlenstamm lief ungeduldig vor dem Zimmer, in dem ihre Nichte lag, auf und ab. Kein Laut war aus dem Raum zu hören und das machte Thalionmel nur noch ungeduldiger. Die sonst so beherrschte Frau machte sich wirklich Sorgen, zumal sie zu Untätigkeit gezwungen war. Selbst der Arzt ließ sich nicht blicken. Hatte er vielleicht schlechte Nachrichten und wusste nicht, wie er der Baronin diese beibringen sollte? War vielleicht etwas passiert? Die Gedanken der Baronin kreisten um die verschiedensten Szenarien, was mit ihrer Nichte und deren Kind passiert sein könnte.
Die Baronin wusste nicht, wie lange sie schon diesen schrecklichen Gedanken nachhing, als plötzlich ein Schrei die unsägliche Stille der Burg durchbrach. Doch es klang nicht wie Alissa. Das war ein anderer Schrei. Thalionmel kannte diese Art Schrei aus eigener Erfahrung. Es war das Kind, welches das Licht Deres erblickt hatte und nun seine Ankunft lautstark kund tat.
Etwas später öffnete der Leibarzt der Baronin die Tür zu Alissas Zimmer, schaute etwas überlastet drein und meinte, dass Alissa und das Kind wohl auf seien, jedoch von den Anstrengungen recht erschöpft. Die Baronin hörte kaum zu sondern stürmte an dem Arzt vorbei an Alissas Bett. Dort lag Alissa wirklich recht blass und erschöpft, aber wach in den Kissen und hielt ein kleines Kind im Arm, welches ruhig atmete. Die Baronin war erleichtert, ihre Nichte und das Kind wohlauf zu sehen und die Anspannung, die sich in den letzten Stunden aufgebaut hatte, fiel von ihr ab. Sie strich ihrer Nichte über das Haar und dankte den Göttern, dass alles so gut ausgegangen ist.
◅ | Zylva die Große geflohen |
|
Friedensvertrag Eychgras/Erlenstamm | ▻ |