Geschichten:Golgaris Rückflug
Golgaris Rückflug
Schloss Sonnentor war keineswegs mehr der Ort, an dem sich die kunstsinnige Clique der Reichen, Mächtigen und Schönen versammelte. Seitdem der Hausherr Barnhelm von Rabenmund gegangen war und mit ihm sein unfehlbarer Instinkt als Mäzen, siechte der ganze Hof dahin. Die meisten Schranzen hatten sich längst nach Auenwacht oder andere Höfe verzogen, waren nach Gareth gegangen oder hatten sich nach gar Almada oder – noch schlimmer – das Horasreich verzogen.
Doch heuer hatte die Witwe Thesia von Quintian-Quandt eingeladen, wen Rang und Namen hatte, der Hof des Schlosses war ausstaffiert wie und je zu den legendären Uraufführungen des Maestros Tsaducci – mit Sitzreihen, Stehplätzen, Paravents und Baldachinen, so dass man sich selbst in den hinteren Rängen fühlte wie in einem Wolkenmeer. Das Gefühl war auch überdies sehr passend, denn das neue Werk des Kaisermärker Hofkomponisten trug den Namen „Rauschen über den Nirgendwolken“ und wurde mit größter Spannung erwartet. Als dann vor der Aufführung die ersten Reihen des Parketts sich mit Boronis füllten, deren Schwärze die vielfarbige Pracht des Publikums wie ein drohender Schatten kontrastierte, steigerte sich die Spannung fast zur Verwirrung, die erst recht komplett wurde, als zunächst der als Hüter des Kaisertals nicht unbekannte Aurol Junavero am Buche einen gerade unpassenden Segen sprach, wie ihn solche zu hören pflegen, deren Ableben unmittelbar bevorstand, was auf keinen der Anwesenden zutraf (wie man hoffte).
Das Publikum wurde sogleich sotto voce durch den glockenklaren Tenor des Bühnenmatadors Malvolio della Gozzi erlöst, der niemand Geringeren als Golgari selbst seine Stimme lieh. Schnell legte Golgari das Arrangement der Oper dar: großes Künstlerleben rundet sich, der Tod steht vor der Tür, die Szenen lassen die Stationen von Künstler und Werk (es handelt sich um einen Komponisten, den Göttern sei Dank! Was hätten wir mit einem Maler angefangen?) lebendig werden mit abwechslungsreichen Melodien, ehe dann am Ende des dritten Aktes Golgari erneut auftritt, um den Künstler (gesungen von Barjed de Pertakis, dessen Bassstimme allerdings langsam an Fülle zu verlieren scheint) nach seinem über eine lange, kunstvolle Arie gezogenen Ableben über das Nirgendmeer zu geleiten.
Nun folgte mit dem vierten Akt der Höhepunkt der Oper mit einem verstörenden Klangerlebnis: Denn nun standen die Boronis auf und bildeten den Chor der Ewigkeit, indem sie ein schauerliches Gebrumm und Getöse erhoben, das nichts anderes darstellte, als den Flug über das Nirgendmeer. Dieser Klang – nennen wir ihn beim Namen: diese – Kakophonie sticht aus dem Werk Sfighios heraus, eine solche Komposition (unterstützt von Instrumenten, die quietschten und rasselten, kratzten kreischten) und hat keiner je gehört … und jetzt kam der wohl intendierte Gednke: … den keienr je gehört, der noch nicht über das Nirgendmeer geflogen ist. Mit Klos im Hals, aber geweiteten Ohren traten dann in Rhetons Warteschlange die Fürsprecher des Künstlers auf, allen voran Lobhild Gartenlaub als Rheton selbst, aber auch Irionya dell' Anzani als Wiegemeisterin und Hernobert Albin Fachandel als Held, der dem Künstler den Vortritt lassen wollte, dann aber vehement für dessen Werk eintritt. Alle Fürsprachen vor Rheton nahmen die Motive der vorherigen Akte auf – lieferten aber auch die bekannten Melodeien aus der „Zeit des Raben“, der „Nacht der Festung“ oder den „Schwingen des Heros“! Als dann in einem nicht enden wollenden Crescendo schließlich Alrik Fassmacher als Boron selbst seinem Diener Golgari befiehlt, den Künstler wieder in die Welt der Lebenden zu bringen, war kein Halten mehr im Publikum! Das war ein selbstreferentielles Bubenstück, eine selbstverliebte Nebelschau, eine freche Auto-Apotheose des Maestros, die so genial gelungen war, dass sie keiner übelnahm. Im Gegenteil: beseelt von der Musik und Borons Richtspruch wurden die anwesenden Ohren zurück über das Nirgendmeer geleitet, dessen Motive ganz offensichtlich rückwärts gespielt und gesungen wurden.
Am Ende des vierten Aktes und dieser bemerkenswert eschatologischen Oper verhallte der liebliche Ton einer Flöte wie der Vogelgesang des anbrechenden Morges oder eines zweiten Lebens im Hof des Schlosses Sonnentor, ehe der Applaus die Darsteller zu sieben Vorhängen zwang und am Ende sogar den kränklich wirkenden Maestro selbst.
Am späteren Abend am Rande der Matinee befragt, was ihn zu der Oper bewogen und zu der ungewöhnlichen Wiedergeburtsszene inspiriert habe, antwortete ya Sfighio kryptisch: „Alles selbst erlebt.“
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