Geschichten:Greif und Fuchs - Töchter ihrer Mutter
Rosendorn, Praios 1044 BF
Die Schwestern lagen sich lange in den Armen. Wie viele Monde hatten sie einander nicht gesehen? Nur weniger Nachrichten ausrichten lassen, keinen Brief schreiben können? Zu viele, wenn man bedenkt, dass beide zur selben Stunde das Licht der Welt erblickt hatten. Sie sahen einander genauso lange an, an den Unterarmen festverhakt und musterten sich.
„Du hast eine Narbe über dem Auge“, kommentierte Yrsya, die um wenige Minuten Ältere. „Außerdem siehst Du … härter aus.“
„Das macht das Ritterleben und die Flucht. Du siehst auch härter aus, Schwester.“
Yrsya lachte trocken: „Das macht das Hofleben. Das ist auch eine Flucht. Wie schön, dass wir uns dennoch hier treffen können. Ein Glücksfall.“
„Eher Fügung“, gab Maya zurück. „Aber daran glaubst du ja nicht.“
„Nein, wenn Du Fügung meinst, die einfach so geschieht, also Schicksal: Daran glaube ich nicht. Wenn Du meinst: Fügung, weil wir mit dem Wissen und den Informationen, die wir erhalten können, ein Treffen arrangieren konnten, dann mag es Fügung sein.“
Maya hatte im Grunde genommen schon weggehört. „Mit wem bist du da?“
„Seine kaiserliche Hoheit hat mir seine engsten Vertrauten mitgegeben, Spalotin und Stechling, den Doktor …“ Sie seufzte … „braucht er selbst.“
„Seine wer?“
„Der Markvogt. Kaiserliche Familie, seit Kaiser Reto ihn dazu gemacht hat, damals zu seinen eigenen Knappentagen. Barnhelms Knappentagen. Die Kaiserin hat daran nichts geändert.“
„Trotz Answin und so?“
„Trotz Answin und so. Der Markvogt ist eine der wesentlichen Stützen des Kaiser- und Königreichs. Ohne ihn …“
„… werden einige ruhiger schlafen können“, ergänzte Maya.
„Leider. Denn denen ist kein ruhiger Schlaf zu gönnen.“
„Ich bin kein Freund von Deinem Markvogten, Kaiserfamilie hin oder her. Ritter Danos – das war eine Stütze des Reiches. Ohne ihn …“
„… schlafen alle gleich gut oder schlecht. Das ist der Unterschied.“ Yrsya warf die Lippe auf und blitzte ihre Schwester an. „Du trägst Schwert und Wappen. Gerittert?“
„Jawohl, Schwester, ich wurde zur Ritterin geschlagen. Von niemand Geringerem als dem Schwertmeister des Königs der Ritter. Erst diesen Mond.“
„Soso. Also Odo. Ist der hier?“
„Ja, er wartet am Ortseingang auf mich. Mit den anderen, die das Banner des Hauses Luring tragen.“
„Und das tut Graf Drego nicht?“
Maya überlegte kurz. „Doch, im Grunde genommen schon. Aber er trägt nur sein kleines Luring-Banner, wir das Banner des Hauses und der Grafschaft Reichsforst.“
Yrsyas Gesicht blieb unbewegt, aber das war womöglich ein deutlicherer Hinweis, für wie verwirrt sie diesen Satz fand, als hätte sie spöttisch gegrinst. „Das ist hochinteressant, Schwester. Darüber möchte ich gern beizeiten mehr erfahren. Womöglich ist das auch der Grund, weshalb Du nicht nach Vierok hinüberkommen konntest?“
„Genau. Ich weiß aber nicht, ob du das verstehen wirst, Schwester, das ist eher so eine Rittersache.“
„Oh, Maya. Ich wurde ebenfalls gerittert. Das ist doch die Voraussetzung für den Empfang von Lehen.“
„Aber … du hast keinen Knappendienst verrichtet!“
„Nein, mein Ritterschlag ist auch nur eine reine Formsache gewesen, sonst hätte ich nicht Reichsedle auf Alrikshorst werden können.“
„Alrikshorst? Reichs…?“
„Die Kaiserin hat dies getan, zu Neujahr. Den Titel gewährte Gerwulf von Gareth, der derzeit über unsere Alriksmark vogtet.“
Maya konnte nicht verbergen, dass sie nicht einverstanden war mit dieser Erhöhung ihrer Schwester. Auf ihrem Gesicht zeigte sich der gesamte innere Kampf.
„Du verstehst es nicht?“, fragte Yrsya.
„Nein. Du hast doch nichts dafür getan!“
Es gelang Yrsya nur schwer, sich nicht anmerken zu lassen, für wie naiv sie diese Bemerkung hielt: „Doch, Maya. Dafür habe ich sehr viel getan. Ich habe gelernt und gelernt. Beobachtet und zugehört. Habe Freundschaften geschlossen und Bündnisse geschmiedet. Habe Abhängigkeiten erschaffen und Vorteilspositionen erarbeitet. Ich tue das seit Jahren. Und ich habe beim Besten gelernt.“
„Ich auch!“
„Ja, aber du bist nur Ritterin.“
„Nur?“, rief Maya. „Nur!? Ritter Danos hat darauf ein Leben gebaut! Ein heiligmäßiges!“
„Das hat er, Maya. Aber es war sein Leben. Bewundernswert. Du kannst aber nicht sein Leben leben, Du musst einen neuen Weg gehen.“
„Du klingst wie die Pfaffen, Yrsya, oder wie Onkel Horulf.“
„Danke für das Kompliment, Maya.“
„Das war keines!“
„Ich weiß. Das macht es zu einem“
„Dein Lehrmeister wird es nicht mehr lange machen. Und was dann?“
Ein Schatten lebte sich über Yrsyas Gesicht. Sie senkte die Augenlider und dann das ganze Haupt: „Ich weiß. Was dann sein wird, ist nicht entschieden.“ Sie hob die Augen und blickte Maya scharf an: „Aber ich bin bereit, meinen Platz einzunehmen. Du auch?“
„Ich auch“, antwortete Maya.
„Gut, dann sind wir am Ende doch beide Töchter unserer Mutter.“
Zum Abschied umarmten sie einander nicht mehr.