Geschichten:Greifendämmerung - Ritterzucht im Morgengrauen
Auf dem Erlgardsfeld, Ende Phex 1035 BF
»So ist’s recht! Lasst die Pferde schön laufen! Warm werden, Ihr Bande, warm werden!«, rief Helidora von Treleneck-Sturmfels den jungen Luringer Pagen zu, wobei ihr Atem in Wölkchen kondensierte. Praios‘ Antlitz hatte den Horizont immerhin schon rötlich gefärbt, dennoch war es noch zu früh, als dass irgendjemand sich aus dem Bett oder gar der Burg gewagt hätte. Außer der Luringer Knappenschar. Die Ausbildung hier genoss den besten Ruf zwischen Trallop und Elenvina, und Knappenjahre sind keine Herrenjahre, wie ein alter Ausspruch der Luringer Schwertmeister lautete. »Traben, Debrek! Leichttrab! Heb Deinen Arsch aus dem Sattel, damit das Pferd es leichter hat. Gut so. Und hoch - hoch - hoch! So wirst Du warm! Adhemar, auf jetzt. Tempo, Tempo!«
Rittmeisterin Helidora galt als die nachsichtigere der beiden Zuchtmeister auf Burg Luringen, doch wie die Pagen hier gescheucht wurden, anstelle der Knappen, die unterwegs waren, hatte mit Nachsicht nichts zu tun. ›Die armen Kinder‹, dachte Firunia von Cresseneck, die als Hausritterin bei der Übung der Pagen anwesend war. Ihr eigener Leomar war auch dabei und gehörte mit Leodane von Doriant zu den ältesten Pagen. Sie waren beide elf Jahre alt. Debrek von Edfelden und Halgor von Schack waren erst neun. Und Sylvette von Treleneck und Adhemar von Luring gar erst sieben und hätten eigentlich als Pagen noch im Bett bleiben können. Das aber wollte der lange Odo nicht. ›Eine Luringer Knappenschar mit zwei Hänftlingen und einem Schluck Wasser auf der Kruppe? Niemals! Die Pagen raus!‹ Der Hausritter Scheupelburg war da und scheuchte die Pagen. Moribert von Goyern fehlte. ›Wenn das der lange Odo erführe!‹
Überhaupt, der lange Odo, dachte ihrerseits Helidora von Sturmfels-Treleneck, während sie ›Höher! Höher!‹ brüllte. Freunde waren sie nie gewesen, was schon besiegelt war, weil Helidora einen Schwertvater hatte, mit dem sich Odo vor Jahrzehnten schon überworfen hatte. Aber heuer? Odo wurde immer unnachgiebiger, starrsinniger. Vielleicht wurde er alt? Oder er vermisst den Grafen noch mehr als wir anderen? Die neuen Verhältnisse gefallen mir ja auch nicht: zu viele Feste, zu viel Gesaufe. Die Clique, die in der Burg das Sagen hatte, war ein Haufen unangenehmer Charaktere. Dazwischen Drego - wie verloren. Seine Mutter nahm ihn vor allen Vorwürfen in Schutz, seine Schwester Ederlinde desgleichen. Obwohl sie sich stritten. Helidora hatte mehr als einmal mitangehört, wie Ederlinde ihren Bruder kritisierte, um Entscheidungen bat. Um Stärke. Man kann eben nicht alles einfach weglächeln, auch wenn Drego das gefallen würde.
In diesem Augenblick durchbrach glockenhelles Lachen die angestrengte Stille der hart arbeitenden Pagen und Rösser auf dem Erlgardsfeld: Lechmin von Luring tobte zu Fuß den Hang hinab, hinter ihr humpelte Moribert von Goyern, wie er zu Bett gegangen war, die Haare zerzaust, der Bart zerwühlt. Rote Augenringe tief wir Burggräben entstellten sein bleiches Gesicht. Missmutig trottete er hinab zum Erlgardsfeld. Und hinter ihm der lange Odo mit dem blanken Schwert. Kerzengerade wie der Henker vor dem Schlag trabte er hinter Moribert und versetzte dem saufräudigen Ritter mit der flachen Klinge Streich auf Streich.
»Auf!«, zischte der Luringer Schwertmeister, »Auf! Wenn dein Vater wüsste, dass du die Knappenübung verschläfst! Mit dem Ochsenziemer käme er über dich!« Unten angelangt, klopfte Lechmin dem Ritter den Staub vom Gewand und raunte: »Macht Euch nichts draus - das macht er mit allen mal.«
Doch Odo stellte sich breitbeinig aufs Feld, rief die Pagen herbei und hieß sie aufmerksam zu sein: »Ihr seid hier auf Burg Luringen und erhaltet die beste Ritterausbildung, die sich denken lässt! Ihr lernt nicht nur Reiten und Kämpfen, sondern ihr lernt auch, stets ein Vorbild zu sein - in Lauterkeit, Pünktlichkeit, Verlässlichkeit und Anstand und Ehre! Herr Moribert hier trifft keine Schuld, denn er war hier kein Knappe, aber ihn trifft die Strafe, denn nun ist er hier Ritter: Um die Burg, Herr Moribert, im Galopp! Und wehe, Ihr seid nicht in einem Stunedeglas wieder hier! Ihr Knappen: Absitzen! Ihr lauft hinterdrein. Den Helm dürft ihr ablegen, sonst nichts. Und hopp!«
So rannte sie ganze Bande los, vorneweg Moribert von Goyern, dem man am Hinterkopf ansah, dass er diesen Morgen nicht vergessen, geschweige denn verzeihen würde. Dahinter die Kinder in ihren leichten Lederrüstungen.
Zurückblieben die Ritter des Hauses. Neu unter ihnen war nur Rondger von Scheupelburg, der aalglatt war und stets wusste, worauf es ankam, um beim Gegenüber nicht schlecht auszusehen: Natürlich war er pünktlich gewesen.
Odo musterte die Ritter: seine Nichte Lechmin, die die Pferde der Pagen gerade anpflockte und den Eindruck vermittelte, sie habe sich den ganzen gestrigen Tag auf diesen Augenblick gefreut. Firunia von Cresseneck, die pflichtbewusst abwartete. Helidora, die wie immer misstrauisch auf Odos nächsten Ausbruch wartete. Und Scheupelburg, dessen spöttisch angehobene Lippe Odo anwiderte.
»Das muss wieder besser werden. Wir sind nur noch ein kleiner Haufen, die Besten sind mit dem Grafen geritten. Also müssen wir hier besser werden. Verstanden, Scheupelburg?«
»Ich? Ich war doch pü…«
»Ist seid neu hier. Darum müsst Ihr Euch doppelt anstrengen. Und jetzt holt das letzte Ross vom Feldrand.« Odo wartete, bis der Ritter weg war, und wandte sich an seine alten Ritterinnen: »Der bürgerliche Echsenkopf hat mir geraten, kürzer zu treten. Ich würde zu alt werden. Mein nichtsnutziger Neffe findet das auch. Wer weiß, wie lange ich noch Schwertmeister sein darf? Wir sind hier die letzten Ritter, meine Damen. Seid wachsam und traut der Bande nicht. Ersäufen sollte man sie wie junge Katzen. Lechmin bemerkt davon nichts - sie liebt ihren Bruder, Und Ederlinde bemerkt alles, sagt aber nichts, weil sie ihren Bruder ebenfalls liebt. Gegen das Wolfspack stehen nur wir drei und Vetter Horulf. Doch der ist in die garetische Politik verstrickt - Verhandlungen mit dem Haus Hartsteen, Verhandlungen mit den Burggrafen, Vorbereitungen zu diesem Großen Cabinett. Es wird eng, meine Damen. Ich fühle mich wie in der Schlacht auf den Vallusanischen Weiden, als die tobrische Flanke einbrach: Das ist wie ein kalter Hauch, der einen am Arsch packt und einfriert!«
Die beiden Ritterinnen schauten sich verblüfft an: da waren sie auf einmal zu Odos Vertrauten geworden, weil sie als einzige noch auf dem Schlachtfeld standen, und erfuhren Erstaunliches über die Rückseite des alten Recken!