Geschichten:Gut Weyring in der Raulsmark, 17. Peraine 34 Hal Teil 1
Gut Weyring in der Raulsmark, 17. Peraine
Sigman von Weyringhaus erwachte mit schmerzenden Gliedern. Kurz blickte er im Halbdunkel verwirrt um sich, versuchte zu ergründen, wo er sich befand. Lange musste er nicht überlegen, es war derselbe Ort wie am gestrigen Morgen - und am Morgen davor ...
Er saß in einem Sessel - zweifellos ein eher ungeeigneter Platz, um eine erholsame Nacht zu verbringen. Der Sessel wiederum stand im Schlafgemach seiner geliebten Gattin Rhodena. Und diese lag schlafend in ihrem Bett; schlafend wie ein Stein, doch das mädchenhafte Gesicht war in einer schmerzlichen Miene verzerrt - eine tiefe Falte in der Stirn, sorgenvolle Züge an den Mundwinkeln. Genau wie an den Tagen zuvor ...
So war es gewesen, seit Rhodena von Weyringhaus-Ruchin aus Rashia'Hal zurückgekehrt war, wohin sie im Auftrag seines Vaters gereist war, des Burggrafen Oldebor. Schreckliche und wundersame Dinge zugleich mussten an diesem Ort geschehen sein. Selbst der sonst so fröhlich plaudernde Lassan hatte nicht viele Worte gemacht. Ein, zwei Wochen nach ihrer Rückkehr waren die Ringe unter den Augen Rhodenas tiefer und dunkler geworden, als würde sie keinen Schlaf mehr finden.
In der Nacht auf den 1. Peraine hatte Sigman nach seiner Gattin sehen wollen. Ihr Bett war zerwühlt, doch es war leer. Sigman hatte in den Fluren des Gutes Weyring nach ihr gesucht, wo der Sohn des Burggrafen der Raulsmark mit seiner eigenen jungen Familie residierte. Er hatte in den Zimmern der Kinder nachgeschaut, die friedlich in ihren Bettchen schlummerten. Zuletzt war er halb verzweifelt in Rhodenas Schlafgemach zurückgekehrt, um dort auf sie zu warten. Irgendwann im Morgengrauen hatte ihn dann der Schlaf übermannt. Die ersten Sonnenstrahlen hatten ihn wieder geweckt - und seine Frau hatte in ihrem Bett gelegen, ohne dass er ihre Rückkehr bemerkt hätte.
Er hatte sie schlafen lassen, bis sie gegen Mittag von selbst erwacht war. Behutsam hatte er sich nach ihrem Wohlbefinden erkundigt, doch sie hatte keine Klagen geäußert. Es schien, als habe sie selbst nicht gewusst, was in dieser Nacht mit ihr geschehen sei. Und so war es Sigman tunlicher erschienen, diesen Vorfall nicht weiter zu erwähnen, um niemanden zu beunruhigen.
Eine Woche später war sie wieder verschwunden. Oder war sie sogar noch öfter fortgewesen und er hatte es in seinem eigenen Schlummer nur nicht bemerkt? Die durchwachten Nächte auf dem Sessel wurden ihm zur Gewohnheit, doch nie gelang es ihm, wach zu bleiben, bis seine Gattin wieder den Weg zurück in ihr Gemach fand. Auch tagsüber konnte er nun nicht mehr mit ihr reden. Sie schlief bis in die Nachmittage und erwachte nicht erholt, sondern erschöpft. Seine sorgenvollen Worte schien sie kaum zu hören, und bei jedem lauten Geräusch warf sie einen angsterfüllten Blick zur Decke.
Nun war der 17. Peraine ... Sigman hatte sich all das seit fast drei Wochen angesehen, und er war mit seiner Weisheit am Ende. Er hatte die Akademie zu Wehrheim - wenn auch ohne allzuviel Glanz - absolviert, war in die Fragen der Verwaltung des Lehens eingeweiht worden, das er dereinst erben würde, aber dies hier überstieg seine Fähigkeiten. Er würde seinen Vater um Rat fragen müssen. Der Burggraf schien Rhodena manchmal besser zu kennen als er selbst.
Sigman gab der schlafenden Rhodena einen Kuss auf die Stirn, dann verließ er leise das Zimmer. Von Gut Weyring zur Villa Geldana, der Residenz des Burggrafen, war es ein Ritt von einer halben Stunde Dauer - eine Strecke, die er mit schöner Regelmäßigkeit zurücklegte. Auf dem Pferderücken streckte er seine müden Knochen, genoss die frische Luft. In der Villa angekommen, klopfte er an die Tür des väterlichen Studierzimmers und trat wie üblich ein, ohne lange auf eine Antwort zu warten.
"Vater, ich muss mit Dir reden", begann er, kaum dass er in den Raum hineingetreten war. "Es geht um Rhodena ..." Erst jetzt fiel ihm auf, dass der Burggraf und sein Secretarius, Meister Wiesenbach, mit kreidebleichen Gesichtern auf ein Schriftstück schauten, welches das Siegel der Garetischen Staatscantzeley trug.
"Nicht jetzt", erwiderte Burggraf Oldebor tonlos. "Es ist Krieg."