Geschichten:Hülle & Fülle – Perrin, Perrin!
Schloss Reichsgarten, Ende Peraine 1045 BF
Und so war es soweit. Die beiden Matriarchinnen erhoben sich von ihren Divanen, hatten sie eben noch etwas legerer gewirkt, wenn auch mit Grazie, so entfalteten sie nun eine Körpersprache der Herrschaftlichkeit. Sie geboten uns ebenfalls aufzustehen, wir taten es. Auch Hessinya, Yaela, Xanjida und Nedarna näherten sich. Eine fein gekleidete Handwerkerin betrat den Salon, ich kannte sie aus der Reichsstadt, vermutlich eine der besten Töpferinnen Perricums, ihr Name Madya Callisglina. Behutsam trat sie an die Scherben heran und öffnete eine Schatulle mit allerlei Edelsteinen, Perlen, Blattmetallen, erlesenen Farben, Schlämmkreide und Ölen. Bevor sie Hand anlegte, hoben aber Sulamith und Serima jeweils eine Scherbe von den Kissen empor. “Was geteilt war, soll gefügt sein. Was zersplittert, soll Einheit sein. Was Vergangenheit, soll Zukunft sein. Ein Horn der Fülle des lieblichen Landes Perrin. Symbol der Herrschaft, der Schwester- und Brüderlichkeit, der Vielfalt, der Völker, der Einheit und des Reichtums. Ein Symbol für uns alle, ein Symbol, dass uns Teilhabe heißt, ein Symbol, an dem sich die Augen laben werden. Ein Symbol, das wir dem Land Perricum zurückgeben. Als Geschenk, Geste und Forderung. Perrin! Perrin! So sei es!”
Andächtig besahen wir nun, wie ein jede der beiden der Handwerkerin ihre Scherbe reichte und dann uns geboten nach und nach das Gleiche zu tun, während uns die reichlichen Gaben der lieblichen Schwestern und des Landes gereicht wurden, in gebetener Ritualität und Versenkung, die mit der Zeit zu einer hypnotischen Entrückung wurde, als wir Meisterin Callisglina Scherbe für Scherbe das Kleinod zusammensetzen sahen. Es nahm eine größere Form an, als ich es erwartet hatte, irgendjemand stimmte einen lieblichen Gesang an und es ging eine gewisse Wärme von unserer Mitte aus, wo das Füllhorn Gestalt annahm. Der Gesang wurde mehrstimmig und schien im Kanon von verschiedenen Zungen gesungen, während die Wärme immer eindeutiger wurde und den Wein in uns zum Köcheln brachte, so dass sich ein wohliges Gefühl in uns ausbreitete und unsere Wangen rot leuchteten. Einen Glanz in den Augen, schauten wir alle auf das Horn, als Meisterin Callisglina die letzte Scherbe einsetzte, der Gesang war nun am Höhepunkt, obwohl niemand den Mund bewegte, die Wärme wurde mächtig, so mächtig, dass ein schillernder Lichtkranz in diversen Farben das nun vollständige Füllhorn umgab. Die Luft vibrierte förmlich und alles erlebte, nicht nur unsere Geschichte, sondern die des Landes Perrin prasselte auf uns ein, mit einer Vehemenz und Schönheit, die unangenehm überfordernd und sanft zugleich war. Es war ein erhabenes Gefühl, als wären wir eins mit dem Boden, auf dem wir stehen, eins mit seiner Geschichte, Gegenwart und Zukunft. Und dann passierte es, als die Töpfermeisterin einen Pinsel getränkt mit Öl ansetzen wollte. Urplötzlich kulminierte alles, Gesang, Wärme, schillerndes Licht, Geschichten, der Raum, wir, das Horn. Es leuchtete noch einmal grell auf, beinahe so heftig wie bei einem alchemistischen Effekt, dann war es plötzlich ganz. Darauf Edelsteine, Perlen, Ziermetalle, tönerne und kristalline Früchte, die wirkten, als würden sie dem Horn entspringen. Und Bilder, Geschichten, Ornamente, die unsere Erlebnisse und die Geschichte des Landes darstellen, als wären sie nie fort gewesen. Aber das beeindruckendste war, sie schienen in Bewegung, sanft, fast unmerklich, aber dennoch da. Wie ein von Satinav gezähmtes, altertümliches und tönernes Bild Golodion Seemonds. Selbst die beiden Matriarchinnen Sulamith und Serima blickten völlig überrascht drein. “Das ist weit mehr als erwartet.”, flüsterte eine von ihnen. Die Magierin Sarana wirkte sogleich zwei Hellsichtszauber, schien sich aber nicht sicher, ob oder was sie da sah. Seniia stimmte einen Choral der drei lieblichen Schwestern an, wir anderen verfielen in pure Freude und Erstaunen, ob des Erlebten.
Sulamith war als Erstes wieder geistesgegenwärtig und rief Bedienstete heran, die sich ebenfalls aus ihrer Starre lösen mussten: “Lasst alles baldigst herrichten, sendet ein Schreiben gen Reichsstadt - Xanjida von Sanzerforst wird dem Markgrafen alsbald ein Geschenk in unserer Namen überreichen, ein Geschenk von großer Kraft und Bedeutung.” Die Worte hallten nach und von irgendwoher erklang, wie in einem Windspiel, “Perrin, Perrin!”