Geschichten:Heiltrud von Gauternburg
Feste Rallerwacht, Grafschaft Waldstein, Firun 1046 BF:
Die Feste Rallerwacht thronte wie eine steinerne Wächterin über den verschneiten Ufern des Flusses Raller. Der eisige Wind des Winters zerrte an den Bannern, und die Mauern waren von einer dünnen Schneeschicht bedeckt. In der düsteren Kälte des Winters wirkte die Festung noch abweisender als sonst, und das Rauschen des Flusses klang wie ein flüsterndes Klagelied.
In der Kommandantur der Feste brannte ein großes Feuer, das jedoch kaum die drückende Stimmung erhellen konnte. Radewin von Hellrutsberge, Hauptmann der Rallerwacht, stand vor dem steinernen Kamin. Seine mächtige Statur war in einen schweren Wappenrock der Waldsteiner Pikeniere gehüllt, doch seine Haltung war angespannt.
Gegenüber saß Imina von Storchenhain, die Landvögtin der Feste. Ihre scharfen Augen musterten den Hauptmann, während sie einen Kelch mit gewärmtem Wein hielt.
Radewin brach schließlich das Schweigen: „Edle Landvögtin, ich bringe eine traurige Nachricht. Heiltrud von Gauternburg ist tot.“
Imina stellte den Kelch langsam auf den Tisch. „Wie ist das geschehen?“, fragte sie, ihre Stimme ruhig, aber mit einem Hauch von Schärfe.
„Es geschah in der vergangenen Nacht“, begann Radewin, den Blick fest auf die Flammen gerichtet. „Heiltrud wollte wohl die Mauern kontrollieren, wie sie es oft tat, selbst bei dieser Kälte. Es scheint, dass sie ausgerutscht ist und über die Brüstung in den Fluss stürzte. Ihre Leiche wurde heute Morgen von den Wachhabenden flussabwärts gefunden, eingefroren im Eis.“
Die Worte klangen wie ein sorgsam geübtes Protokoll, dachte Imina. Sie nickte langsam, doch ihre Gedanken arbeiteten fieberhaft. Heiltrud war eine erfahrene Pikenierin, nicht die Art von Person, die unvorsichtig auf einer vereisten Mauer wandelte.
„Ein tragischer Unfall“, sagte Imina schließlich und ließ den Satz in der Luft hängen.
Radewin nickte. „In der Tat. Sie war eine fähige Offizierin und wird schwer zu ersetzen sein. Die Männer und Frauen sind erschüttert.“
Imina ließ sich nichts anmerken, aber in ihrem Inneren regten sich Zweifel. Es war bekannt, dass Radewin und Heiltrud nicht immer einer Meinung gewesen waren. Der Hellrutsberge gehörte zu den Waldsteiner Traditionalisten und Sympathisanten von Seneschall Coswin von Streitzig, während Heiltrud eine glühende Verehrerin der Elfengräfin war und somit eher zu den Elfenfreunden zählte. Doch war das ein Grund für Mord?
„Ich werde eine Untersuchung anordnen“, sagte Imina schließlich, ihre Stimme sanft, aber bestimmt.
Radewin hob eine Augenbraue. „Eine Untersuchung? Glaubt Ihr, es gäbe mehr zu diesem Vorfall?“
Imina lächelte kühl. „Es ist eine Formalität, Hauptmann. Bei einem Todesfall dieser Art bin ich verpflichtet, sicherzugehen, dass alles seine Ordnung hat.“
Radewin nickte langsam, doch seine Haltung wurde steifer. „Natürlich, edle Landvögtin. Wie Ihr wünscht.“
Als Radewin den Saal verließ, blieb Imina allein zurück. Sie stand auf und trat an das Fenster. Der Fluss Raller zog wie ein dunkles Band durch die verschneite Landschaft, und in ihrem Inneren wusste sie, dass dort mehr als nur die eisigen Wasser Geheimnisse verbargen.
Sie würde geduldig sein. Die Wahrheit hatte eine Art, ans Licht zu kommen – besonders unter dem wachsamen Blick Praios’. Und wenn Radewin etwas zu verbergen hatte, würde sie es erfahren.
Im Flackern des Feuers schien es, als würde der Schatten der Landvögtin länger und dunkler werden, während die Nacht über die Feste Rallerwacht hereinbrach.
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