Geschichten:Helden von Gareth - Unter dem Schutz des Igels
Taverne „Heldeneinkehr“ an der Reichsstraße, unweit der Stadt Hartsteen, Abend des 3. Namenloser 1035 BF
»Ich habe ehrlich nicht mit Eurem Erscheinen gerechnet. Setzt Euch zu mir und verhaltet Euch unauffällig. Es gibt genügend Augen und Ohren, die mich hier in Hartsteen gerne auf einem Scheiterhaufen brennen sehen würden.«
Malevinde von Vierok setzte sich in die Ecknische der verräucherten Schankstube. Entgegen ihrer Erwartung, dass an den dunklen Tage die Straßen und Gasthäuser der Grafschaft Hartsteen wie ausgestorben sein müssten, konnte sie anhand der lustig johlenden Menschenmenge keinen Unterschied zu einem anderem Tag des Jahres ausmachen. In der kleinen Taverne waren alle Tische voll besetzt, nur den einzelnen Tisch in der schattigen Ecke, wo die schwarze Robe saß, schien man zu meiden. Der Blick Malevindes fiel auf die kleine tönerne Igelfigur, die jemand über der Eingangstür angebracht hatte. Die schwarze Robe bemerkte ihren Blick und lächelte.
»Das ist eine Schutzfigur, wie man sie hier im Hartsteenschen häufiger findet. Ein alter Brauch und Aberglaube. Die einen sagen, der Igel soll als Tier der Peraine die Bewohner des Hauses vor feindlichen Gästen schützen. Andere sagen, dass die Figur den Schutz des Igelkönigs beschwören soll. So oder so ist es der Ausdruck eines dummen bäurischen Aberglauben, den man wohl niemals ausmerzen wird können.«
Die Kaisermärkerin fühlte sich zunehmend unwohl. Niemand kam oder blickte gar zu ihrem Tisch her, der Wirt ignorierte sie, als würde er sie einfach nicht sehen. Sie hatte das unbestimmte Gefühl, dass sie so laut schreien konnte, wie sie wollte, und niemand der zechenden Söldner und Tagelöhner würde ihr die geringste Beachtung schenken. Sie wollte das Treffen mit dem Magier so schnell wie möglich hinter sich bringen.
»Habt Ihr die Sachen wie vereinbart dabei?«, fragte sie ihn mit leiser Stimme, denn trotzdem fürchtete sie, dass jemand sie beobachten könnte.
»Habt Ihr das Buch wie vereinbart dabei?«, entgegnete der Magier kalt.
Wortlos legte Malevinde das geschnürte Bündel auf den Tisch und schob es zu ihrem Gegenüber. Der Agent, mit dem sie in Gareth in Verbindung getreten war, hatte sehr klar und präzise beschrieben, wo aller Wahrscheinlichkeit nach in den Archiven der Bibliothek zu St. Ancilla der ledergebundene Oktavband zu finden sein würde. Sie hatte ihrer Tochter Malveda, die dort als Novizin diente, den Auftrag gegeben, ihr dieses Buch zu verschaffen und bei ihrem Leben niemanden im Kloster davon ein Wort zu sagen. Ihre elfjährige Tochter hatte schnell verstanden, dass für sie weitaus mehr als die mütterliche Liebe auf dem Spiel stand, und hatte ihr bei der Verlobungsfeier von Berdina vor wenigen Tagen in einen unbeobachteten Moment das unscheinbare Büchlein übergeben.
»Warum interessiert Ihr Euch für dieses offenkundig von einem Geisteskranken geschriebene Buch?«, konnte Malevinde ihre Frage nicht zurückhalten.
Sie hatte ihrer Neugier nicht widerstehen können und hatte das Buch durchgeblättert. Fanden sich auf den ersten Seiten noch in feinsäuberlicher Schrift alte Märchen und Legenden aus dem Feidewald und Zeichnungen und Bemerkungen zu Fragmenten eines ihr unbekannten Tempelfrieses, so veränderte sich Schrift und Inhalt je weiter es zum Ende des Buches ging. Dinge hatte sie dort gelesen, die sie nicht verstand, die ihr aber wie schlimmste Ketzerei und dämonische Verblendung erschienen, illustriert mit Dämonenfratzen und konzentrischen Spiralen. Sie hatte das Buch nicht bis zum Ende durchgesehen und hätte es am liebsten einem Geweihten gegeben, wenn nicht der Agent ausdrücklich genau diese Schrift von ihr gefordert hätte.
Der Schwarzmagier lächelte milde. »Meine Forschungen, verzeiht wohlgeborene Dame diese folgende Anmaßung, würden Euren Verstand überfordern und die theoretischen Grundlagen meiner Ideen Euch nur unnötig verwirren. Um es für Euch verständlich auszudrücken, ich bin auf eine interessante Spur gestoßen, über die jener Hesinde-Geweihter Landroyan seinerzeit wohl auch gestolpert sein muss. Mein Mentor interessiert sich sehr für gewisse Schlussfolgerungen, die der Geweihte auf der Schwelle des Wahnsinns, kurz bevor sein Geist völlig der amazerothischen Verblendung verfallen ist, in seinem Buch der Schlange notiert hat. Ihr solltet Euch darüber keine unnötigen Sorgen machen, es handelt sich um rein akademische Studien von geringer Bedeutung für Laien und Nichtgelehrte.«
Diese Antwort beruhigte Malevinde nicht im geringsten, sie wusste genau, dass man in dieser Zeit sich tunlichst davor hüten sollte, einem gesuchten Schwarzmagier, der den Gerüchten nach für die Widersacher aus den Schwarzen Landen arbeitete, mit irgendwelchen Informationen zu versehen. Doch ihr rannte die Zeit davon, sie fühlte regelrecht, wie ihre Feinde sie umzingelten, um sie von ihrem rechtmässigen Erbe aus Vierok zu vertreiben. Die Verlobung mit dem Raulsmärker hatte ihr ein wenig Luft verschafft, aber es war ein rein defensiver politischer Akt gewesen. Burggraf Oldebor würde sich eventuell breitschlagen lassen, bei einem tatsächlichen Angriff Waltrudes sich auf ihre Seite zu stellen. Aber sonst hatte sie überhaupt nichts gegen ihre Feindin in der Hand.
»Was habt Ihr für mich?«, flüsterte Malevinde mit klopfendem Herzen.
Tharleon lehnte sich genüsslich zurück und nahm einen Schluck aus seinem Bierhumpen. Nach einem Augenblick griff er in eine geheime Tasche in seinem Gewand und zog ein Pergament sowie einen goldenen Schlüssel hervor, legte beides sorgfältig auf den Tisch vor Malevinde. Besonders die äußerst kunstvoll gefertigte Räute des Schlüssels weckten ihre Neugier: eine Rosenblüte, in der sich ein Glöckchen befand.
»Dieser Schlüssel war einst im Besitz von Udalbert von Schellenpfort, dem Vorgänger Eures Vaters als Baron von Vierok. Sie öffnet eine geheime Tür in den Katakomben von Burg Schellenpfort, hinter welcher sich das Versteck des Familienschatzes der Familie Schellenpfort befindet. Man sagt, dass die Kammer noch von einer alten Trollfestung stammt, aus der Zeit als der Namenlose durch das Volk der Trolle Aventurien zu beherrschen versuchte. Gemessen an der Größe eines Trolls ist die Kammer winzig, etwa die Größe einer Trollfaust. Die Tür ist mit einem mächtigen uralten Trollzauber geschützt und nur während der fünf dunklen Tage des Dreizehnten manifestiert sich das Schlüsselloch an einer geheimen Stelle, die hier auf dem Pergament genau beschrieben ist. Dort findet Ihr verborgen genau das Mittel, um Eure ungeliebte Rivalin für immer von Deres Angesicht verschwinden zu lassen. Denn dort befindet sich jenes verfluchte Glöckchen, das Udalberts zweite Frau Griselda, als sie noch eine einfache Küchenmagd und geheime Mätresse des Barons war, ihrer Rivalin Ulmberta schenkte, damit sie der tödliche Fluch des Artefakts träfe. Wenige Monde, nachdem die Baronin das Geschenk ihrer Feindin erhielt, machte sie mit ihren drei lieblichen Kindern an einem herrlichen Sommertag einen Ausflug mit der Kutsche. Die Pferde gingen durch, die Kutsche überschlug sich auf ebener Strecke und kam inmitten einer Wasserpfütze zum Liegen. Die Baronin und ihre Kinder ertranken ohnmächtig darin, in nicht mehr als zwei Fingern Wasser. In dem Irrglauben, das helltönende Glöckchen seiner verstorbenen Gattin sei ein alter vergessener Familienschatz, vielleicht sogar jenes verlorengegangenes legendäre Geschenk der Götter an die ersten Vorfahren seines Geschlechts, fügte Udalbert das verfluchte Glöckchen dem Familienschatz bei, nur um damit ohne es zu ahnen das Unglück für seine neue Gattin und schliesslich sein eigenes Verderben herbeizurufen. Die Legende besagt, dass es ein Blitz der Herrin Rondra war, der die Burg zerstören und das Glöckchen für immer unauffindbar machen sollte.«
»Und woher wisst Ihr von dieser Geschichte?«, fragte Malevinde erstaunt, aber noch immer im Bann der märchenhaften Legende.
»Weil ich sie von Griseldis Geist persönlich erfahren habe, als ich den Schlüssel aus der leeren Gruft dieses mutmaßlich von den Ogern gefressenen garetischen Staatsrats genommen habe. Die gute Frau hat es sich nie verzeihen können, dass sie so einen törichten Fehler hatte begehen können, dass sie noch immer als Geist in den Kellern von Schellenpfort umhergeht«, erzählte der Magier achselzuckend.
Malevinde blickte starr auf die vor ihr liegenden Gegenstände, einen heftigen innerlichen Kampf führend. Sie wusste, dass es gegen den Willen der Zwölfe war, auf diese Weise in die Geschicke der Menschen einzugreifen, aber eine Stimme in ihrem Kopf sagte ihr, dass sie doch so viel klüger und vorsichtiger sei, als eine gemeine Küchenmagd. Und so griff sie hastig zu, steckte Pergament und Schlüssel in eine Gürteltasche und erhob sich vom Tisch, um grußlos und schnell das Wirtshaus zu verlassen. Sie hörte nicht mehr das leise meckernde Lachen des Schwarzmagiers, der einem an der Theke sitzenden feingliedrigen Mann mit spöttischem Lächeln in den Mundwinkeln zuprostete.
◅ | Feindbestimmung |
|
Gleichgesinnte | ▻ |