Geschichten:Helmbrecht von Mistelhain
Gut Mistelheim, Njertal, Königlich Neerbusch, Firun 1046 BF:
Der eisige Wind fegte über die sanften Hügel des Njertals, ließ die welken Blätter der alten Mistel-Eiche auf dem Gut Mistelheim tanzen und trug den Klang eines schluchzenden Mannes mit sich. Travin von Mistelhain kniete am Fuß des Baumes, die Hände zu Fäusten geballt, den Blick starr auf das frische Grab seines Vaters gerichtet. Ritter Helmbrecht von Mistelhain war tot.
Travins Frau hatte sich mit den Kindern längst zurückgezogen, und nur Travin blieb zurück. Die Abenddämmerung hüllte das Gut in ein goldenes Licht, während seine Gedanken ihn in die letzten Tage seines Vaters zurückführten.
Helmbrecht war seit vielen Götterläufen von Krankheit gezeichnet, besonders sein Geist schien nicht mehr oft auf Dere zu verweilen, dämmerte er doch die meiste Zeit so vor sich hin. Erst in den letzten Nächten vor seinem Tod hatte sich etwas verändert. Der alte Ritter hatte Visionen – düstere Prophezeiungen, wie er sie in für ihn ungewöhnlich klaren Momenten nannte.
„Travin“, hatte er gesagt, seine von der Krankheit hohle Stimme kaum mehr als ein Flüstern, „das Njertal wird von einer aufziehenden Gefahr bedroht. Dunkle Schatten ziehen über das Land, und mit ihnen kommt ein Sturm, den wir noch nicht begreifen.“
Travin hatte die Worte seines Vaters zunächst für das Fieberdelirium eines sterbenden Mannes gehalten. Doch als Helmbrecht ihm mit letzter Kraft die Hand gedrückt und ihn mit glühenden Augen angeblickt hatte, spürte er die Schwere der Worte.
„Unter der Eiche“, hatte Helmbrecht gesagt, „dort liegt die Antwort. Hüte ihn, wie ich es getan habe.“
Nach vielen Augenblicken des Schweigens stand Travin schließlich auf. Die Worte seines Vaters hallten in seinem Geist wider. Die Eiche. Sein Blick wanderte hinauf zu den mit Misteln bewachsenen, weit ausladenden Ästen, die den Hof überdachten. Dieses uralte Gewächs wachte seit vielen Jahrhunderten über das Gut der Familie Mistelhain.
Ein seltsamer Gedanke keimte in Travin auf. Er griff nach einem Spaten, der neben der Scheune lehnte, und begann unter den Wurzeln der Eiche zu graben. Die Erde war hart, doch mit jedem Schlag spürte er, wie Entschlossenheit seinen Kummer überlagerte.
Nach einer Weile stieß die Schaufel auf etwas Festes. Mit bloßen Händen befreite Travin eine kleine, verschlossene Truhe aus dem Erdreich. Der Deckel war mit geschwungenen Gravuren bedeckt, die er nicht entziffern konnte.
Mit zitternden Händen öffnete Travin die Truhe. Darin lag ein altes Buch, eingebunden in Leder, dessen Seiten von Zeit und Feuchtigkeit vergilbt waren. Neben dem Buch befand sich ein Amulett in Form eines Eichenblattes, das in Silber gearbeitet war.
Travin schlug das Buch auf. Die Schrift war alt, die Sprache ungewohnt, doch einige Passagen konnte er entziffern. Es handelte sich um Aufzeichnungen seiner Vorfahren, die von einer dunklen Macht berichteten, die das Njertal vor Jahrhunderten heimgesucht hatte. Eine Macht, die damals durch ein uraltes Ritual gebannt worden war – das Ritual, das das Gut und die Eiche verband.
Das Amulett schien der Schlüssel zu sein. Doch was noch beunruhigender war: Die letzten Seiten des Buches waren nicht von einem Vorfahren geschrieben worden, sondern von Helmbrecht selbst. In krakeliger Handschrift beschrieb er Visionen einer Rückkehr der Dunkelheit, einer Wiedererweckung des alten Fluchs.
Travin schloss das Buch und nahm das Amulett in die Hand. Ein kühles Kribbeln lief ihm den Arm hinauf, und für einen Moment hatte er das Gefühl, als würde die Luft um ihn herum schwerer.
Er wusste, dass die Worte seines Vaters mehr waren als die wirren Gedanken eines Sterbenden. Irgendetwas lauerte in den Schatten des Njertals – und die Verantwortung, das Geheimnis der Mistel-Eiche zu schützen, lag nun allein bei ihm.
Die Nacht brach herein, und Travin blickte hinauf zu den Sternen, die über dem Gut glitzerten. Der Schmerz um den Verlust seines Vaters lastete schwer auf seinem Herzen, doch unter der Trauer keimte ein Funke Entschlossenheit.
„Ich werde dich nicht enttäuschen, Vater“, flüsterte er in die Dunkelheit.
Mit dem Buch und dem Amulett in der Hand machte er sich auf den Weg zurück zum Herrenhaus. Die Zeit der Trauer war vorbei. Eine neue Aufgabe wartete – eine, die das Schicksal des Njertals bestimmen würde.
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