Geschichten:Im Sturm - Stellungswechsel
Burg Orbetreu, der späte Abend des 10. Travia 1030 BF
Die Novizin der Peraine hatte Tanira rechtzeitig versorgt, ihr jedoch mehrere Tage Bettruhe verordnet. Die Anstrengungen der letzten Tage seien unverantwortlich gewesen, meinte sie. Tanira wirkte zwar unzufrieden, fand sich jedoch eingedenk ihrer Schwäche damit ab, dass vorerst nicht an eine Weiterreise zu denken war. Auch Hadrumir war nicht sonderlich glücklich darüber, dass es nicht direkt weiterging, versuchte aber unterdessen einige wichtige Dinge zu klären. Burg Orbetreu würde er nach reichlicher Überlegung in die Hände Voltans geben. Am heutigen Nachmittag hatten die Familienmitglieder Thronhardt in der Familiengruft beigesetzt. Nun stand man beisammen um den Tisch im großen Saal. Auf ihm lag der Reiterschnabel des Seginhardt von Schwingenfels. Hadrumir musste unwillkürlich an die Beisetzung vor fast drei Jahren zurückdenken.
Malmbert von Schwingenfels betrat schweren Schrittes den Raum. „Interessant, interessant! Wie ich sehe, hat sich tatsächlich die ganze Familie eingefunden.“ „Ihr übertreibt.“ antwortete Rovena Feodora. Malmbert wandte sich an die Versammelten: „Trotzdem gibt es wichtige Dinge zu besprechen.“ Er ging zu Hadrumir. „Ich gratuliere Dir. Diese Frau, Tanira von Natzungen, ist eine gute Wahl.“ Hadrumir schaute ungerührt in die Runde. Sein Vetter Ludorand stand ihm gegenüber. „Wenn die Gerüchte über sie unwahr sind, dann wird damit ein vortrefflicher Bund zwischen unseren alten Familien geschlossen.“ Hadrumir wollte dies so nicht stehen lassen. „Du kannst es drehen und wenden, wie Du willst. Tanira ist eine von Natzungen. Und sie ist rechtmäßige Baronin Natzungens.“ Danaris – immer noch geschockt vom Tode ihres Vaters – blickte ihn verstimmt an. „Ansonsten wäre es eine Schande, dass Schwingenfelser Blut in dieser Sache vergossen wurde.“ Hadrumir nickte. „Ich weiss.“ Lechmar von Waldhof, der Sohn Joleas, nahm einen Schluck Wein und sprach dann aus, was alle dachten: „Und wie wird es nun weitergehen?“ „Was meinst Du?“ „Nun, meine Mutter und ich kämpfen für die Quintian-Quandt in Hutt. Ludorand kämpft in Feidewald ebenfalls für Quintian-Quandt. Du selbst kämpfst in Natzungen ebenfalls für Quintian-Quandt.“ Hadrumir nickte, doch ehe er antworten konnte, sprach Hoerwahrd: „Nun, ich weiss nicht, was daran so schlimm sein sollte.“ Dabei richtete er seinen Kneifer auf der Nase. Malmbert drehte sich angewidert zum gräflichen Steuereintreiber um. „Was daran schlimm ist? Die Familie Schwingenfels blickt auf eine längere Tradition als irgendein Quintian oder irgendein Quandt. Wir haben unsere Ideale verkauft. Die Zeiten eines Hagen von Schwingenfels, die Zeiten eines Hagrobald von Schwingenfels oder eines Seginhardt von Schwingenfels sind vorbei! Diese Familie ist das erste Rittergeschlecht der ältesten Grafschaft des Königreiches. Und seht uns an!“ Hadrumir wurde ungeduldig. „Alter Mann, worauf willst Du hinaus?“ „Früher hörte man das Wort eines Schwingenfelsers an. Kein Graf sagte einem Schwingenfelser, was dieser zu tun oder zu lassen hatte. Zumal der Graf zu solchen Zeiten nicht eine solche Krämerseele war wie Geismar.“ Ludorand war aufgesprungen. „Hüte Deine Zunge, alter Mann! Deine Predigten von Aussöhnung kennen wir zur Genüge.“ „Es geht mir hierbei nicht um Aussöhnung, sondern um Tradition! Ich frage Euch, wie kann es sein, dass Baronien verkauft werden? Wie kann es sein, dass ein Graf seiner Gefolgsfrau einen solchen Lehenseid abverlangt, wie es Geismar vor wenigen Tagen getan hat?“ Hadrumir erkannte, dass sein Onkel Recht hatte. „Ich weiss, worauf Du hinaus willst. Der alte Adel wird mit Füßen getreten. Dies geht ja sogar soweit, dass man den alten Adel von höchsten Positionen ausschließt.“
Zustimmendes Nicken bestätigte Hadrumir. „Doch damit hört es jetzt auf. Ab jetzt weht ein anderer Wind. Die Familie Schwingenfels wird sich dies von Geismar nicht weiter gefallen lassen.“ Ludorand sprang erneut auf. „Darüber hast Du nicht zu entscheiden." „Ich denke doch!“ „Ich bin Seginhardts Sohn, nicht Du! Ich bin das Familienoberhaupt!" spie ihm Ludorand entgegen. Hadrumir schaute sich um. ’Es ist an der Zeit dieses Possenspiel endgültig zu beenden.’ Er fixierte Ludorand. „Was ist ein Familienoberhaupt ohne Familie?“ fragte er. Ludorand schaute ihn ungläubig an. „Das kannst Du nicht tun.“ Hadrumir blieb ruhig. „Siehst Du irgendjemanden hier, der Dir folgen will.“ Die beiden Brüder Anshold und Tsadan erhoben sich. „Dies ist gegen die Tradition!“ sprach Anshold. Hadrumir nickte. „Ja, vielleicht, doch Geschichte wird von Siegern geschrieben.“ „Das ist offene Revolte. Davon wird Graf Geismar erfahren.“ warf Ludorand ein. Eleona hatte sich ebenfalls erhoben. „Wenn Du gegenüber Graf Geismar auch nur ein Wort dieser Unterredung mitteilst, dann hast Du zwei große Probleme. Zum einen wird der Graf wissen, dass Du die Kontrolle über die Familie Schwingenfels verloren hast. Damit wärst Du für Geismar wertlos. Sollte er sich Deiner nicht entledigen, so kommen wir zu Deinem zweiten Problem: Du stehst ohne jegliche Unterstützung da.“ Ludorand blickte seine Schwester mit bohrendem Blick an. Innerlich kämpfte er mit sich und seiner Beherrschung. Wütend drehte er sich um und verlies den Saal.
Hadrumir blickte zu Hoerwahrd, der offensichtlich auf Seiten Geismars stand. Hoerwahrd schien für einen Moment unsicher. „Du erwartest doch nicht von mir, dass ich mein Amt bei Geismar niederlege?“ „Nein!“ „Wirst Du offen gegen Geismar kämpfen?“ Hadrumir schüttelte unmerklich den Kopf. „Er ist der rechtmäßige Graf! Ich werde mich nicht gegen ihn stellen. Aber er hat mir sehr deutlich gezeigt, was er von seinen Untertanen hält. Dies kann ich nicht länger unterstützen!“ Hoerwahrd nickte. „Dann sehe ich keinen Interessenskonflikt zwischen uns.“
Hadrumir war mittlerweile zu einer Vitrine gegangen. Hier ruhte seit drei Jahren der Reiterschnabel Seginhardts, welcher der Legende nach schon von Lechmar von den Schwingenfelsen geführt wurde. Hadrumir ließ sich den Schlüssel zur Vitrine reichen und holte den Reiterschnabel heraus. Malmbert legte ihm seine Hand auf die Schulter. „Semper agere, nunqaum timere!“ Hadrumir nickte.