Geschichten:In Ihrem Schatten – Heimkehr ins Licht
Kloster Sonnenau, Mitte Ingerimm 1037 BF:
Licht und Schatten lagen zuweilen dicht beieinander. Diese Erfahrung hatte nun auch Silvano machen müssen, denn nicht einmal eine Woche, nachdem die Kaiserin die Herrschaft über den Gerbaldsberg neu bestallt hat, war auch Silvano von der Pfalz verwiesen worden. ‚Eure Dienste werden hier nicht länger gebraucht‘, so hatte es geheißen, und nun hatte auch er seine Siebensachen zusammenpacken und die Pfalz verlassen müssen. Insgeheim hatte er so etwas ja bereits bei der Abreise des Pfalzgrafen, nein, früheren Pfalzgrafen befürchtet; doch auf der anderen Seite war er auch beim Antritt des Streitzigers im Amt des Hofkaplans verblieben. Doch die Zeiten änderten sich halt; ‚Dinge kommen, Dinge gehen‘, wie er selbst vor einigen Wochen gepredigt hatte.
Anders als Giselbert von Streitzig hatte er jedoch ein Ziel vor Augen, denn schon bevor er vor Jahren auf den Gerbaldsberg gezogen war hatte er gewußt, eines Tages nach Sonnenau zurückzukehren, wenn die Zeit dafür gekommen war. Nun war es halt so weit, vielleicht früher als erwartet, aber nicht ungelegen. Am Horizont konnte er bereits die strahlende Kuppel erblicken, ebenso zu den Seiten das Gut Ehrenfeldt und den Hügel, den man gemeinhin wegen der umgebenden Findlinge das Trollgrab nannte.
Seit er den Sonnaupfad erreicht hatte ging er zu Fuß und führte sein Pferd am Zügel; er war ohnehin kein großer Reiter, und selbst von dem kurzen Ritt tat ihm der ungeübte Hintern bereits ausreichend weh. Außerdem diente der Fußmarsch auf dem Pilgerweg seiner inneren Beruhigung; im Geiste ließ er die vergangenen Jahre noch einmal Revue passieren.
Da er keine große Eile an den Tag legte und noch dazu der Praiosscheibe Glanz ausreichend wärmte dauerte es fast eine ganze Stunde, bis er vor der Pforte des Kloster stand. Er klopfte an die Pforte und wartete geduldig, bis man ihm öffnete. Dennoch konnte er sich das Lächeln nicht verkneifen, als der Torflügel aufschwang und er in Bruder Gerons verwundertes Gesicht blickte; denn Silvano war wahrscheinlich der Letzte, mit dem jener gerechnet hätte.
»Praios zum Gruße, Geron«, sagte er, und das Gefühl, zuhause zu sein überwog den Schmerz ob des Verlustes seines vormaligen Amtes.
»Praios zum Gruße, Bruder Silvano«, entgegnete Geron, die Form wahrend. »Was in des Götterfürsten Namen führt Dich so unverhofft hierher?« fragte er, während Silvano durch das Tor trat.
»Das Licht des Herrn Praios, der Klang des Gongs der Sonnenau, der Duft von Heimat«, erwiderte Silvano blumig und ließ den immer noch verwundert blickenden Klosterbruder hinter sich zurück. »Nun schließ schon das Tor, ich habe niemanden mitgebracht.« Der Angesprochene tat wie geheißen und eilte ihm sodann hinterher.
»Bleibt Ihr länger?« fragte Geron, während sie zusammen zum Wohntrakt hinüberschritten.
»Für immer, Geron, wahrscheinlich für immer.« Er zwinkerte ihm zu. »Und erspar uns die Förmlichkeiten; dergleichen haben wir früher auch nicht nötig gehabt.«
»Für immer? Und der Gerbaldsberg?«
Silvano seufzte, und für einen kurzen Moment verfinsterte sich seine Mine. »Der ist Geschichte; eine lange Geschichte, wohlgemerkt, die ich in Ruhe berichten werde. Zunächst muss ich der Äbtissin meine Aufwartung machen.« Währendesses hatte er sein Gepäck vom Pferd abgeschnallt, es sich über die Schulter geworfen und war ins Gebäude hineingetreten; Geron hatte ihm die Tür aufgehalten. Nun lud er seine Habseligkeiten neben der Treppe ab, die ins Obergeschoß führte, und wandte sich nach rechts, zur Kammer der Äbtissin; Geron nickte nur zum Zeichen, das jene wohl dort wäre, wo Silvano sie vermutete.
Er klopfte an die Tür, nicht zu zögerlich, aber auch nicht zu forsch und öffnete, sobald das *‚Herein‘* erklang.
»Silvano!« Die Äbtissin blickte verwundert vom Lesepult auf, an welchem sie stand und in den Schriften der Praioskirche gelesen hatte. »Was führt Dich in die Heimat?«
»Eben jener Umstand, dass es die Heimat ist«, antwortete er. »Sei mir gegrüßt, werte Base.« Und dann berichtete er, was ihm widerfahren war.
Als er geendet hatte, reichte ihm Alrika Junivera von Hagenau-Ehrenfeldt, die Äbtissin des Klosters, die Hand. »Dann begrüße ich Dich recht herzlich zurück am Ort Deiner Weihe. Und ob Du es glaubst oder nicht, Deine alte Kammer ist derzeit frei. Richte Dich dort wieder ein; und willkommen zu Hause.
Silvanos Rückkehr nach Sonnenau verbreitete sich wie ein Lauffeuer im Kloster, und schon zur Abendandacht warfen ihm die versammelten Brüder und Schwestern neugierige Blicke zu. Als die Äbtissin ihn dann auch noch bat, den Schlusssegen zu sprechen war es ihm, als wäre er nie fort gewesen. Und als die untergehende Sonne durch die runden Fenster unterhalb der Kuppel fiel und die Tempelhalle in goldenes Licht tauchte, stahl sich eine Tträne der Rührung in Silvanos Augen.
Nach dem Abendmahl verharrten alle länger im Speisessaal, als es üblich war, denn alle wollten seine Geschichte aus seinem eigenen Munde hören. Während er also berichtete ließ er seinen Blick über die Versammelten schweifen. Bis auf einige jüngere Geweihte und die meisten Novizen kannte er die meisten, nur eine fehlte: Kilea, die Tochter der Äbtissin. Doch jene weilte fernab am Hof des Kronobristen; eine Position, in die er, Silvano; sie empfohlen hatte. Ihr Fehlen diente einer höheren Sache, und dieser Erfolg ließ die Trauer über ihre Abwesenheit verblassen.
Als er zu Bett gegangen war, fand er lange keinen Schlaf; erst weit nach Mitternacht fielen ihm die Augen endlich zu. Dennoch erwachte er mit dem ersten Hahnenschrei; er stand auf, trat nach der ersten Verwirrung über den zunächst fremden Ort ans Fenster und blickte hinüber zum Tempel, auf dessen Kuppel sich die ersten Strahlen der Morgensonne widerspiegelten. »Zuhause«, dachte er. »Endlich Zuhause.«