Geschichten:In besten Händen
Der Abschied von der heimatlichen Burg und ihrer Familie war Leonore alles andere als leicht gefallen. Sie hatte aber insbesondere durch ihre Großmutter Efferdana schon früh gelernt, dass es sich für die Erbin Zackenbergs und Enkelin des Heermeisters nicht ziemte, wie ein gewöhnliches kleines Kind zu weinen, schon gar nicht vor den Augen des Gesindes. Lediglich beim Abschied von ihrer Schwester Melinara konnte Leonore einige Tränen nicht zurückhalten, war das Verhältnis zwischen den Kindern trotz des Altersunterschieds von drei Jahren doch ein sehr inniges.
Immerhin, so tröstete sich das Kind, würde Janne sie begleiten, ihr Kindermädchen, dass mit seiner freundlichen und warmherzigen Art fast schon zu eine Art zweiter Mutter für die Baroness geworden war. Sie erzählte ihr vor dem Zubettgehen immer so aufregende Geschichten über die Götter und ihre Streiter. Schon bald werde auch Leonore eine Ritterin und Streiterin für den Herrn der Götter sein und um alles hierfür Erforderliche zu lernen, sei es nun an der Zeit, Zackenberg zu verlassen und ins ferne Perricum zu ziehen, wo ein Ritter sie ausbilden werde. Außerdem könne sie in der großen Stadt auch öfters ihren Großvater treffen, der dort nun ein ganz wichtiger Mann sei, wie Janne hinzufügte. Und auch ihre Großmutter Fredegard freue sich bereits sehr auf sie. Diese Erklärungen des Kindermädchens hatten der jungen Adligen einen Gutteil ihrer Angst genommen, ihre Heimat im allgemeinen und ihre Schwester im besonderen zu verlassen - wer schließlich eine Streiterin für den güldenen Götterfürsten werden wolle, der dürfe auch keine Angst haben, sondern habe sich mutig und tapfer jeder Herausforderung zu stellen!
Nach einer eher kühlen Verabschiedung durch ihre Großmutter und den übrigen auf der Burg weilenden Anverwandten brach die Baroness in Begleitung Jannes und einiger Bewaffneter gen Südosten auf.
Den Tag nach ihrer Ankunft in der großen Stadt hatten Leonore und Janne in der Residenz des Heermeisters verbracht, wo sich dieser und Fredegard zumindest für einige Stunden ihrer Enkelin widmeten. Zivko erklärte dem Mädchen noch einmal, dass sie hier sei, um bei einem bedeutenden Ritter alles zu lernen, damit sie dereinst selbst die Schwertleite empfangen und später gar die Herrschaft über Zackenberg übernehmen könne. Beim "bedeutenden Ritter" musste das Kindermädchen einen plötzlichen Hustenanfall vortäuschen, um nicht laut aufzulachen, worauf die Alt-Baronin mit einem dezenten Tritt unter dem Tisch gegen Jannes Schienbein und einem leichten Schmunzeln reagierte. Nachdem, was ihr Fredegard über den Kerl erzählt hatte, war er weder bedeutend noch auch nur ansatzweise das, was sich ein Kind unter einem echten Ritter vorstellen mochte. Kaum hatte Janne sich wieder beruhigt und sich von der Überraschung des Tritts erholt, schwang auch schon die Türe auf und der "bedeutende Ritter" betrat den Saal.
Siegerain von Bregelsaum-Berg hatte diesem Moment mit einer gewissen Vorfreude - die weit mehr dem Ereignis an sich als dem Kind galt - aber auch einer Spur Unbehagen entgegengesehen. Dem Oberst des Bombardenregiments war nämlich durchaus bewusst, dass er sich im Umgang mit Zivkos Enkelin und Erbin keine Fehler oder Nachlässigkeiten erlauben konnte; schließlich weilte der Heermeister den größten Teil des Jahres fast buchstäblich nur einen Steinwurf von ihm entfernt ebenfalls in Perricum und erführe daher eher früher als später von irgendwelchen Unregelmäßigkeiten in Umgang und Ausbildung Leonores. Und dieses al´anfanische Fossil würde jeden noch so geringen Anlass mit Freuden zu seinem Vorteil ausnutzen. Andererseits: Jetzt, wo er Olberthe endlich los war, hatte sich sein Nervenkostüm deutlich erholt, sodass Siegerain die Aussicht, die nächsten Jahre ein kleines Kind am Bein zu haben, nicht mehr schrecken konnte, zumal dies ja auch allerlei Möglichkeiten bot. Außerdem hatte er in den vorangegangenen Wochen verschiedene Werke über das Rittertum im Allgemeinen und die Ausbildung von Knappen im Besonderen gelesen, sodass sich der Offizier auf seine zukünftige Aufgabe bestens vorbereitet wähnte.
Zivko stellte Leonore, Siegerain und Janne einander vor - wobei letztere das schüchterne und unsichere Mädchen gab - und dass er beide von morgen an in seine, Siegerains, Obhut übergäbe. Der Oberst reagierte auf diese Ankündigung leicht pathetisch mit einer kurzen Verbeugung und dem feierlichen Versprechen, bestens für die Baroness zu sorgen und sie alles zu lehren, was eine zukünftige Ritterin können und wissen müsse. Janne, die in diesem Moment niemand beachtete, quittierte dies mit einem Augenrollen und Kopfschütteln. Ja, Mutter hatte ihn betreffend nicht übertrieben! Zugleich bewunderte sie deren Selbstbeherrschung, ließ sich diese doch nicht im geringsten anmerken, was sie von diesem Schmierentheater hielt.
Am Vormittag des Folgetages verabschiedete sich Leonore artig von ihrem Großvater und begab sich in Begleitung Fredegards und ihres Kindermädchens in die Obhut Siegerains, nun voller Vorfreude auf die vor ihr liegenden Abenteuer.
"Ich freue mich, mein lieber Oberst, dass meine Enkelin bei einem so großen Ritter wie Euch das nötige Handwerkszeug erlernen wird, dessen es für den Ritterschlag und den Baronsreif bedarf. Wer wüsste Eure Fähigkeiten und Vorzüge mehr zu schätzen als ich?", begann die Adlige mit vor Sarkasmus triefender Stimme. "Und natürlich stehe ich Euch jederzeit mit Rat und Tat zur Seite. Immer.", schloss die Adlige mit einem warmherzigen Lächeln und eiskaltem Blick.
"Pfffh."
"Schön, dass wir einander verstehen. Doch so sehr ich Eure Gesellschaft auch genieße, mein Bester, so ist es dennoch nun leider an der Zeit, zumindest für den Augenblick Lebewohl zu sagen, da noch andere Verpflichtungen meiner in der Stadt harren. Aber grämt Euch nicht, wir sehen uns gewisslich bald wieder, denn ich gedenke, meiner lieben Leonore von Zeit zu Zeit einen Besuch abzustatten und mich an ihren beständigen Fortschritten zu erfreuen, die sie unter Eurer kundigen Anleitung zweifelsohne machen wird."
Nachdem sie ihrer Enkelin einen Kuss auf die Stirn gegeben hatte, zwinkerte sie Janne kurz zu und entschwand dann in eine Seitenstraße.
Diese, die das Gepäck der Baroness schleppen durfte, hoffte momentan bloß, mit diesem aufgeblasenen Popanz nicht allzu oft zu tun zu bekommen, um ihm nicht vor lauter Ärger irgendwann frustriert die Kehle durchzuschneiden. Zumindest Leonore täte sie damit vermutlich sogar einen Gefallen, dachte Janne mit einem grimmen Lächeln, bliebe der Kleinen so doch Einiges an Unsinn und Prahlerei in der Zukunft erspart.