Geschichten:In den Sternen
Im Raschtulswall, am 20. Tage der Travia 1043 BF
Die Kälte kroch aus den Schatten, die sich schon früh am Nachmittag in den Schründen und Klüften der Ostflanke des Walles sammelten. Da Praios‘ Antlitz sich anschickte, hinter den Gipfeln des Hohen Walls unterzugehen, versanken die Hänge im Osten in die Schatten des kühlen Abends. Eidechsen verließen ihre warmen Sonnenplätze und verkrochen sich in ihre geschützten Löcher. Die Greifvögel stiegen höher und höher, um in den erhellten Regionen westlich der Sturmfelser Bergflanken nach beute zu suchen. Der sich schon am frühen Abend senkende Tau weckte die Gerüche der Kräuter und Flechten, die sich als einzige in diese Höhen des Gebirges emporwagten und auf dem rauen Felsen Wurzeln schlugen.
Der Baburinstieg war eine der sicheren Routen über den Wall – und doch auch eine der verschwiegenen. Wer es nicht eilig hatte, wer die Reichsstraßen meiden wollte und wer gut zu Fuß war, konnte diesen Weg aus Garetien nach Perricum und Aranien wählen. Entlang des meist gut ausgezeichneten Weges gab es Lagerstätten, an denen es oftmals genug Reisig für ein kleines Kochfeuer gab. Wer den Weg wählte, nahm stets Holz mit auf den Weg. Beim Aufstieg füllte man die Lager auf, beim Abstieg bediente man sich an den Haufen, die Reisend aus der Gegenrichtung angehäuft hatten. So wurde es seit Generationen gehalten, und selbst die Ferkinas beteiligten sich an der Gemeinschaftsaufgabe, denn hier oben, auf der Brüstung der Welt, waren alle Menschen gleich: der Gewalt des Berges ausgeliefert, winzig und hilflos auf dem Dach Deres.
Das Feuer war verloschen, die Dunkelheit vollkommen, als Mainhard seiner Enkelin den letzten Schluck heißen Tees aus dem Becher anbot, indem er sie leicht anstupste. Lechmin nahm den Becher, leerte ihn in einem Zug und krabbelte dann auf den Schoß ihres Großvaters. Es war die Zeit, da die Sterne sich aus dem Dunkel des Firmamentes schälen und den Himmel in eine so merkwürdige Weite verwandelten: gleichzeitig hell und finster, gleichzeitig unendlich fern und zum Greifen nah.
Beide hatten die Köpfe in den Nacken gelegt, kuschelten sich in die Decken und starrten in den Himmel, der sich über ihnen auszubreiten schien.
„Da, eine Sternschnuppe!“, sagte Mainhard, aber Lechnin hatte sie auch gesehen. „Du kannst dir etwas wünschen, Lechmin.“
„Ich wünsche mir, zu Hause zu bleiben.“ Das Mädchen klang tapfer im Unglück.
„Ich weiß, Lechmin. Aber das geht nicht. Du hast Madas Gabe, musst ausgebildet werden.“ Mainhard hatte eine sanfte Stimme, wenn er wollte. Und gegenüber seiner Lieblingsenkelin gebrauchte er nie eine andere. Lechmin hatte es schwer genug, seitdem sich offenbart hatte, dass sie magisch begabt war. Mainhard fand nicht, dass sie deshalb ‚eine Schande für die ganze Familie‘ sei. Im Gegenteil.
„Aber warum so weit weg?“
„Weil die Garether Akademie schon voll war. Und weil mir Erhala ibn Rajim noch einen Gefallen schuldig war. Du weißt, aus meinen Tagen, als ich mit Leomar vom Berg unterwegs war.“ Mainhard schwieg, und auch Lechmin schwieg. Nach einer ganzen Weile, als der Wind sich endlich ganz gelegt hatte und wirklich kein Laut mehr zu hören war, zeigte Mainhard wieder an den Himmel: „Siehst du dort das Sternbild Simia? Er steht für schöpferischen Neubeginn. Ein gutes Zeichen.“
„Und das dort?“
„Das ist das Sternbild der Travia, daneben die Gans. Ich habe als Kind immer geglaubt, dass jeder Stern innerhalb dieses Sternbildes ein liebender Mensch wäre, dessen Gatte noch auf Deren wandelte.“
„Und heute?“
„Heute will ich das immer noch glauben. Sollte ich vor Marwine gehen müssen, vielleicht in dieser scheußlichen Fehde, dann wirst du dort oben einen neuen Stern sehen. Meinen Stern.“
„Und wenn Oma zuerst geht?“
„Dann auch, aber ihren. Sieh dahinten, das ist Ucuri. Er ist ein guter Wegweiser durch die Täler des schlafenden Giganten.“
„Und das dort, ein Horn?“
„Das ist Levthans Bild, Lechmin. Der hat noch nichts mit dir zu tun.“ Beide schwiegen wieder eine Weile und verloren sich in der Unendlichkeit des Sternenhimmels. Lechmin gähnte laut. „Wir sollten uns hinlegen, Kind. Morgen erreichen wir das Dorf Sturmfels, von da an geht es nur noch bergab. Wir werden einen tollen Blick auf die Perrinlande haben.“
„Wann werden wir in Fasar sein?“
„Von hier sind es noch etwa vier Tage bis Baburin. Und von dort noch einmal sechs bis Fasar. Und dort wirst du dann Elevin der berühmten Bannakademie werden. Zuerst wirst du lernen müssen, folgsam zu sein und neugierig zu bleiben, obwohl du keine Fragen stellen darfst. Und in einigen Jahren wird deine Ausbildung richtig beginnen. Und wenn ich alt und runzlig bin, dann wirst du aus der Akademie kommen und eine der begehrtesten magischen Leibwächterinnen sein, die man sich denken kann.“
„Ist das sicher?“, wollt Lechmin schläfrig wissen.
„Ja, wenn unser Geld lange genug reicht, dann ja.“
„Werde ich da Freunde haben?“
„Viele Freunde, Liebes. Und dein Opa bleibt ja auch erst einmal in der Stadt. Bis du dich eingewöhnt hast. Ich zeige dir die besten Garküchen. Und den Basar, den wirst du mögen.“ Aber Lechmin war eingeschlafen. Mainhard drückte seine Enkelin fest an sich und blickte noch lange versonnen in die Sterne, denn dort war ihrer aller Zukunft geschrieben.
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