Geschichten:In der grossen Stadt
Gareth, 2. Rahja 1045 BF:
Wie eine Galeere das Wasser teilte das riesige Schlachtross die Passanten auf der Strasse und machte den Weg frei für die nachfolgenden Reisenden. Gelangweilt blickte Junker Felian von Perainsgarten nach links und rechts in die Menge und beobachtete das Treiben auf der Hauptstrasse Meilersgrunds. Gleichzeitig hielt er scharf Ausschau nach möglichen Gefahren: Auch in der Stadt konnten Räuberbanden aus dem Hinterhalt zuschlagen und sich blitzschnell mit geraubten Handelswaren oder entführten Adelskindern durch die nächsten Gassen aus dem Staub machen…
Im Kielwasser des Junkers ritt sein Knappe Brin, in der rechten Hand die Leinen zweier Ponys haltend und meist vergeblich bemüht, ein wachsames auf deren Reiterinnen im Auge zu halten und gleichzeitig nichts Spannendes am Strassenrand zu verpassen. Derartiger Pflichten ledig gaben sich Vorena und Traviata von Perainsgarten vollkommen ihrer Neugier hin. Zum ersten Mal überhaupt in ihrem Leben hatten sie den heimatlichen Schlund verlassen und kamen aus dem Staunen nicht heraus. Vater hatte ihnen viel über die Stadt Gareth erzählt, doch die Wirklichkeit übertrag die Geschichten bei weitem: So viele Häuser und noch mehr Menschen! Mit grossen Kinderaugen bestaunten die beiden die vollkommen fremde, neue Umgebung: Hier wurden von einem grossen Leiterwagen schwere Bierfässer abgeladen, so dass die Gruppe einige Schritt zur Seite ausweichen musste, dort wühlten Schweine in ausgekippten Essensresten und war die gutgekleidete junge Frau in der Kutsche, die sie gerade gekreuzt hatten, eine echte Prinzessin?
Schmunzelnd betrachteten die beiden Waffenmägde hinter den Kindern das von ihnen reitende Trio, ihre Blicke dagegen blieben so wachsam wie derjenige des Junkers an der Spitze. Brin wuchs allmählich zu einem jungen Mann heran der auch Verantwortung übernehmen konnte. Doch in manchen Dingen war er halt doch noch ein Junge und so waren zwei weitere Paar Augen Balsam für Felians Seelenfrieden – auf Birte und Alirke konnte er sich blind verlassen.
Gleichsam den Abschluss der kleinen Karawane bildete ein vierrädriger, von zwei Maultieren gezogener Karren, dessen Ladefläche mit einer schweren Plane zugedeckt war und dessen pausbäckiger Fahrer schwitzend auf einem langen Strohhalm herumkaute, während er sein Gefährt überraschend geschickt um allerleid grosse und kleine Hindernisse auf der gepflasterten Fahrbahn herumdirigierte.
Vorbei an den Läden von Bäckern, Schneidern und anderen Handwerkern, die ihre Handwerkserzeugnisse direkt aus grossen Fenstern auf die Strasse hinaus verkauften, gelangte die kleine Karawane allmählich zum Rommilyser Tor. Mit grossen Augen betrachten die beiden Mädchen die Mauer, die sich plötzlich zwischen den Häuserzeilen vor ihnen auftürmte.
Vor dem dunklen Schlund des Stadttores standen vier mit Hellebarden und Kurzschwertern bewaffnete Gardisten im Fuchs-Waffenrock Wache und betrachteten aufmerksam den Strom an Mensch, Tier und Wagen, der sich in beiden Richtungen durch das Tor schlängelte. Jeder Passierende wurde von ihnen zumindest kurz gemustert, jeder zweite und jedes Fuhrwerk nach dem Woher und Wohin befragt. Geduldig warteten die Ankömmlinge
«Felian von Perainsgarten zum Grossfürstenhof», erklärte der Junker einem schnauzbärtigen Gardisten, der ihn fragend ansah, «die beiden jungen Damen werden morgen dort ihren Dienst antreten.» Dieser nickte wissend. «Und der Wagen?» «Das Gepäck der beiden grossfürstlichen Paginnen sowie einige Spezialitäten für den Hof.» Besagte Spezialitäten erregten dann doch die Neugier der Wachen. Nach einigem Gefeilsche – die hinter der Gruppe Anstehenden begannen bereits zu murren – einigte man sich auf einen Zoll, der für beide Parteien akzeptabel war, sowie je eine Flasche feinsten Perainsgartner Kräuter- und Pflaumenschnaps «zur Qualitätsprüfung».
Nachdem Sie das Stadttor hinter sich gelassen hatten kam die Gruppe schneller voran, da sich die Menge der Ankömmlinge in Alt-Gareth auf den Weiten des Maraskanplatzes verlief und meist ohnehin zielstrebig eine der davon abzweigenden Strassen und Gässchen ansteuerten. Felian schmunzelte, als er hinter sich seinen Knappen als Fremdenführer betätigen hörte, welcher den Mädchen (und auch den gebannt lauschenden Waffenmägden, wie Felian schmunzelnd feststellte) mit beiden Händen hier und dorthin zeigend und Geschichten erzählend Marschallshof und Kasernen, den Kaiser-Raul-Park und die Villa Stoerrebrandt, den Praios- und den Ingerimmtempel beschrieb.
Gut gelaunt und bestens unterhalten führte Felian seine Schützlinge über den Bürgerplatz auf eine kleinere Mauer mit kleinerem Tor, doch nicht mit weniger Wachen, zu. «Die Alte Residenz», drehte sich der Junker im Sattel um, «wir sind da.»
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