Geschichten:In großen Fußstapfen
Mit einer eigentümlichen Gefühlslage verließ Ugdalf von Löwenhaupt-Hauberach die Residenz des Markgrafen, unter dem Arm eine prächtig gearbeitete Ledermappe. Zum einen trauerte er immer noch um seinen Vater Wallbrord, der buchstäblich in seinen Armen die Reise in Borons Hallen angetreten hatte. Zum anderen war er in gewisser Weise froh, nun endlich aus dessen lange Zeit so übermächtigem Schatten heraustreten zu können. Eine weitere große Last hatte nach der Eroberung Mendenas die Kaiserin von ihm genommen, als sie ihn rehabilitiert und ausgezeichnet hatte. Jetzt würde sich niemand mehr über ihn lustig machen oder seinen Namen schmähen. Nun, genauer betrachtet überwog die Freude die Trauer doch zumindest ein wenig.
Für die Dauer des Aufenthalts in der immer noch von den jüngsten Kämpfen gezeichneten Reichsstadt hatte Ugdalf Quartier in den ebenfalls beschädigten Unterkünften seines Regiments genommen. Das war zwar alles andere als standesgemäß, aber dort hatte er die Ruhe, nach der es ihm im Augenblick verlangte und außerdem gab es dort noch etwas Wichtiges zu erledigen.
Im Arbeitszimmer seines Vaters nahm er auf dessen Stuhl Platz und schloss die Augen. Im Gedanken sah er Wallbrord hier sitzen und arbeiten. Das ganze Zimmer schien immer noch von der Präsenz des Toten erfüllt zu sein und dessen Sohn diese geradezu in sich einsaugen zu wollen. Einige endlos erscheinende Augenblicke später war Ugdalfs Geist ins Hier und Jetzt zurückgekehrt und er schlug die Mappe auf, die er seit ihrem Erhalt nicht aus der Hand gegeben hatte. Erneut las er das aufwendig gestaltete Dokument, dessen Inhalt er beinahe schon im Schlaf aufsagen könnte: Die Belehnungsurkunde für die Baronie Vellberg.
Vor einigen Tagen hatte der Markgraf ihn für den heutigen Vormittag zu sich bestellen lassen und ihm während der ob der Umstände recht klein und einfach gehaltenen Audienz eröffnet, dass Ugdalf nach Tradition und Recht seinem Vater auf dem Baronsstuhle nachfolgen solle. Kurz darauf leistete der neue Herr zu Vellberg in Gegenwart eines Geweihten des Götterfürsten seinen Lehenseid und nahm besagte Urkunde entgegen. Den Baronsreif, das wusste Ugdalf, hatte seine Mutter in Verwahrung.
Bedächtig schloss er die Mappe und richtete seinen Blick nach vorne, während sich zugleich seine Züge verhärteten. Jetzt galt es nur noch, diese Schmarotzerin in ihre Schranken zu weisen. Der frischgebackene Baron ging zur Tür und rief einen überraschten Soldaten, der offensichtlich nicht damit gerechnet hatte, im Zimmer des ehemaligen Regimentskommandeurs jemanden vorzufinden, zu sich.
"Ja, Herr Hauptmann?"
"Das heißt- ach egal. Finde Hauptfrau von Aelderklamm und schicke sie umgehend zu mir!"
"Jawohl."
Einige Minuten später klopfte es an der Tür.
"Herein."
"Was zum Namenlosen soll das? Wenn Du was mit mir bereden möchtest, dann kannst Du gefälligst zu mir kommen. Ich bin nicht Deine Lakaiin! Außerdem dachte ich-"
"Genug. Was Du denkst, ist mir völlig egal. Das war es schon immer. Ich will von meiner kostbaren Zeit auch nicht mehr als unbedingt nötig an Dir verschwenden, drum komme ich direkt zur Sache."
Elissa von Aelderklamm wollte zu einer empörten Erwiderung ansetzen, doch redete ihr Halbbruder ungerührt weiter.
"Zu Deiner Information: Ich habe heute vor seiner Erlaucht den Lehenseid geschworen und dadurch die Nachfolge unseres Vaters als Baron zu Vellberg angetreten. Vom heutigen Tage an ist es Dir untersagt, die Baronie jemals wieder zu betreten. Die eher bescheidenen Erträge aus Gut Rotbach werden Dir selbstverständlich jährlich ausgezahlt werden; es solle niemand sagen können, Du würdest ungerecht behandelt. Wenn es nach mir ginge, würde Dir der Junkertitel, den Du Dir von Vater erschlichen hast, aberkannt werden, aber da ich Dir Deine Erbschleicherei nicht beweisen kann und das Andenken des Toten nicht beschmutzen will, werde ich, wenn auch mit großem Widerwillen, davon absehen. Der Titel einer Edlen zu Vellberg hingegen ist Dir, da er mit keinem Lehen verbunden ist, mit sofortiger Wirkung entzogen.
Elissa wirkte sichtlich getroffen ob der hasserfüllten Worte ihres Halbbruders. "Ugdalf, ich weiß, Du hast mich nie gemocht und bist immer davon ausgegangen, dass es mir nur darum ging, Vater gegen Dich einzunehmen. Aber kam es Dir nie in den Sinn, dass ich dies nie wollte, genauso wenig wie irgendwelche Titel oder sonstige Gunstbezeugungen von ihm? Dass ich genauso um ihn trauere wie Du? Ich-"
"Es reicht!" unterbrach ihr Halbbruder sie rüde. Du erscheinst aus heiterem Himmel hier in Perricum, wickelst meinen Vater um den Finger und sorgst als Krönung des Ganzen dafür, dass Selinde ihr Gut an Dich abtreten muss! Du hast dadurch beinahe meine Familie, der ich nun vorstehe" - der neue Baron legte bei diesen Worten seine linke Hand auf den Knauf des Familienschwertes - gespalten! Und Du erwartest von mir nun allen Ernstes, dass ich glaube, dass dies nicht von vornherein Dein Plan war?"
Äußerlich ungerührt hatte Elissa die Hasstirade über sich ergehen lassen. Ihr war klar geworden, dass es sinnlos war, mit Ugdalf weiter zu diskutieren. Deutlich ruhiger erwiderte Sie: "Ich wusste nicht, dass Dein Hass auf mich so groß ist, Bruder. Im Übrigen habe ich mit dem Schicksal Selindes nichts zu tun, ob Du es nun glaubst oder nicht. Ich bitte Dich nur um eines: Gestatte mir wenigstens, an unser Vaters Grab von ihm Abschied zu nehmen. Dafür verzichte ich auch gerne auf das Junkergut."
"Nein." entgegnete Ugdalf lapidar. "Die Beisetzung fand damals ohne Dich statt und seine Familie wird auch zukünftig ohne Dich um ihn trauern. Eine Familie, von der Du niemals ein Teil warst und auch niemals sein wirst. Letztlich bist und bleibst Du doch immer nur eines: Ein Bastard. Ein Bastard, der nach dem Tode seines Erzeugers anscheinend immer noch nicht begriffen hat, wo sein Platz ist oder besser gesagt nicht ist."
Die letzten Sätze hatten Elissa aschfahl und beinahe die Fassung verlieren lassen. "Dann ist nun wohl alles gesagt, nehme ich an?" fragte sie mit tonloser Stimme.
Ein knappes Nicken ihres Halbbruders beantwortete ihre Frage und sie verließ, immer noch aufgewühlt und wie betäubt wirkend, grußlos das Zimmer.
Ugdalf blieb danach eine gefühlte kleine Ewigkeit am Schreibtisch seines Vaters sitzen und stierte ins Nichts. Allmählich realisierte er, was er alles im Zorn zu Elissa gesagt hatte und begann sich darüber zu ärgern. Er hätte niemals so die Fassung verlieren dürfen, kam ihm in den Sinn. Und seiner Halbschwester zu verwehren, von ihrer beider Vater Abschied zu nehmen, war nun auch alles andere als eine Ruhmestat, wie er sich widerwillig eingestehen musste. Für einen Moment war Ugdalf versucht, Elissa hinterherzulaufen, sich für seine harschen Worte zu entschuldigen und ihr die gewünschte Abschiednahme zu gewähren. Dann aber kam ihm sein Vater in den Sinn, der ihn mehr als einmal unentschlossen, ja schwach genannt hatte. Nein, diesem Vorwurf würde er sich niemals wieder aussetzen! Und genau das würde er tun, wenn er sich jetzt bei seiner Halbschwester entschuldigte. Es galt nun hier und für die Zukunft Stärke zu zeigen!
Der Baron erhob sich, nahm die Ledermappe und begab sich in sein Quartier. Es war ein anstrengender Tag und er wollte jetzt nur noch schlafen.