Geschichten:Kressenburger Neujahrsstechen 1042 BF - Teil 26
Vor dem Tjost
Vor den Toren Kressenburgs, Baronie Kressenburg, Praios 1042 BF
Algirdas stieß die Zeltplane zurück, trat ein und verhielt mitten im Schritt. Wie immer, wenn er seinen Vetter mit barem Oberkörper erblickte, brauchte der Geist einen Moment, um zu verarbeiten, was die Augen wahrnahmen. Was Aardor an Höhe fehlte, hatte sein Körper völlig schamlos in Muskelmasse umgesetzt. Der Kerl hatte einen Nacken wie ein Stier, Arme dick wie ein Jahrmarktskämpfer und einen Brustkasten wie ein preisgekröntes Zugpferd. Das alles erschien Algirdas im Anbetracht seines eigenen, deutlich schlankeren Wuchses mehr als unfair und es wollte auch so gar nicht zu dem runden, jungenhaften Gesicht mit den vielen Feenküsschen passen. Irgendetwas war da einfach schiefgelaufen.
„Rein oder raus, Alter, entscheide dich mal?!“, kam es da von Fählindis. „Im Durchgang stehen bleiben und die Plane offenhalten, so dass jeder sehen kann, was für einen Scheiß ich hier verbinsböckelt habe ... das läuft so nicht!“
Algridas trat ganz ein und ließ die Zeltplane hinter sich fallen. Dann ging er zu seinen Verwandten hinüber, warf einen prüfenden Blick auf den Verband, den Fählindis um Aardors Schulter gewickelt hatte, und stellte fest, dass das wirklich Scheiß war.
„Götternocheins!“, stöhnte er. „Man könnte meinen, ich hätte es dir nicht schon ein paarmal in aller Ausführlichkeit gezeigt.“
„Ich bin halt ein Krieger und kein Heiler“, erwiderte sie pikiert.
„Wer Wunden schlägt, sollte sie auch behandeln können“, wiederholte Algirdas eine Weisheit seiner verstorbenen Mutter und verscheuchte die Habechhegen mit einer entschiedenen Geste, um den Verband zu lösen und noch einmal von vorn zu beginnen.
„Wir haben gerade festgestellt, dass du im Vergleich zu mir ganz schön abstinkst, mein Lieber“, meinte Aardor derweil gutgelaunt.
„In welcher Hinsicht?“, Algirdas Gedanken waren schon wieder beim Körperbau seines Vetters und er wappnete sich für eine Spitze, die wirklich wehtun würde.
Fählindis nahm ihm die Befürchtung jedoch. „In Sachen spektakulär Scheitern“, erklärte sie blinzelnd. „Sich in der ersten Runde vor ner blutjungen Rondrianerin auf den Hosenboden zu setzen, um die Kapitulation zu erklären, ist schon mal gar nicht so schlecht. Aber sich in der dritten Runde ohne ersichtlichen Grund in das Schwert einer Koscher Veteranin zu stürzen und dann fast abzunippeln um einiges spektakulärer.“
„Gebe ich euch!“, Algirdas konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen, obwohl die Sache an sich kein bisschen witzig war. Er verurteilte auch nach wie vor, dass sein Vetter den Tjost nicht sausen lassen wollte – seiner Gesundheit zuliebe. „Aber wo wir schon dabei sind“, schob er daher nach. „Willst du es dir nicht doch noch mal überlegen, Aardor? Durch die Heilkräuter sieht das Ganze jetzt zwar besser aus, du solltest dich davon nur nicht täuschen lassen. Es ist, wie der Medicus sagte: Schonung wäre das Wichtigste. Dir einen Schild an den versehrten Arm zu hängen und damit die Stöße einer Lanze abfangen zu wollen ... das ist das Gegenteil von Schonung.“
„Ach, schnickschnack!“, brummte der Rauheneck unwillig. „Das hatten wir doch alles schon: In dem Zustand werd ich mich eh nicht lange halten. Also was soll’s? Reit ich halt ein, zwei Mal an und flieg dann in den Dreck. Davon wird der Arm nicht abfallen!“
„Aardor ...“, hob Algirdas noch einmal an, wurde aber sofort unterbrochen.
„Sag mir lieber, gegen wen es für mich geht! Dafür warste doch da draußen, oder nicht? Um das für uns nachzulesen. Also?“
„Isolde von Immingen“, murmelte Algirdas.
„Wer ist das?“, wollte Fählindis sofort wissen.
Aardor hob die Schultern und handelte sich dadurch einen Klapps auf den Hinterkopf ein. Von Algirdas, dessen Werk er gerade zunichtemachte. Ob das schmerzerfüllte Stöhnen diesem kleinen Stüber galt oder ob sein Vetter gerade gespürt hatte, dass seine Schulter noch weit davon entfernt war, ausgeheilt zu sein, blieb offen.
„Wenn ich das richtig verstanden habe, ist die Frau von hier“, erklärte Algirdas. „Ich meine, ich hätte irgendwas von ‚Kressenburger Lanze‘ gehört. Sie ist jedenfalls erfahrener als Aardor.“
„Aha“, machte sein Vetter und schniefte leise. „Und was ist mit dir?“
„Mein Gegner heißt Tiako von Rosenteich.“
„Wer ist das?“, diesmal kam die Frage von Aardor.
„Das ist der schwarze Mann“, kam es wie von der Sehne geschnellt aus Fählindis Richtung.
„Der schwarze Mann? Was soll das denn sein? Sind wir hier in einem Schauermärchen unterwegs, oder was?“, lachte Aardor.
„Doch nicht so, Mann!“, schnappte Fählindis. „Der hat nicht nur schwarze Haare, sondern auch ganz dunkle Haut. Wie einer von diesen Dschungelmenschen aus dem tiefen Süden. Ich hab da mal ne Zeichnung in so einem ... Buch über ... fremde Tiere und Pflanzen gesehen.“
„Wo?“
„Bibliothek der Klugen Undra.“
„Trallop?“
„Nein, Baliho, du Trottel.“
„Da schau an!“, Aardor nickte. „Ein Dschungelmann also. Herzlichen Glückwunsch, Algirdas. Nach allem, was ich weiß, sind die normal nicht gerade im Lanzenreiten zu Hause. Also stehen deine Chancen diesmal vielleicht gar nicht so schlecht.“
„Sehr witzig!“, gab er zurück und zog den Verband mit voller Absicht etwas enger, als es hätte sein müssen.
„Und ich? Was ist mit mir?“, wollte Fählindis wissen.
„Du reitest gegen Edelbrecht vom Eberstamm.“
Algirdas sagte das, als sei nichts dabei. Insgeheim aber freute er sich schon darauf, diese Paarung zu verkünden, seit er sie von der Setzliste abgelesen hatte. Er war unendlich gespannt gewesen, wie seine Base die Neuigkeit aufnehmen würde und hatte sie deshalb nicht einen Lidschlag aus den Augen gelassen. Würde sie auch das wieder nicht jucken, oder würde sie wenigstens dieses eine Mal eine Reaktion zeigen, die er für halbwegs angemessen hielt?
„Ich ... äh ... was?“
Die Habechhegen hatte sich gerade einen Becher mit kühlem Most gefüllt, stellte den und den Krug nun aber sicherheitshalber rasch wieder auf der Reisetruhe ab, die ihnen als Tisch diente. Mit Genugtuung nahm Algirdas zur Kenntnis, dass ihre Hände leicht zitterten und dass sie von einem Moment auf den nächsten kalkbleich geworden war.
„Du reitest gegen Edelbrecht, Fäh“, wiederholte er feixend.
„Er meint den Prinzen des Kosch und Gemahl der Markgräfin von Greifenfurt“, ergänzte Aardor, der selbst auch ein wenig baff zu sein schien, aber dennoch breit lächelte.
„Ich weiß, wer das ist!“, zischte Fählindis. „Aber ... warum denn nur ...“
„Den ritterlichsten aller dunkelblaublütigen Ritter – sieht man mal von Arlan ab – und Favoriten dieses nicht ganz so prominent besetzten Turniers“, Aardor sprach einfach weiter, als habe er das Gezeter seiner Base nicht gehört. „Potzdonnernocheins, das ist ein verdammtes Glück! Was für eine Ehre, eh? Ich beneide dich jetzt schon.“
„Beneiden?! Alter, das ist ein Alptraum!“ Fählindis hob die Hände gen Himmel. Es sah ein bisschen so aus, als wolle sie die Götter anflehen, diese Entscheidung zurückzunehmen. Als sich nichts tat, richtete sie den Blick vorwurfsvoll auf Algirdas. Als könne er etwas dafür. „Warum denn jetzt?“, fragte sie ungehalten. „Warum nicht im Fußkampf? Ich bin im Tjost eine Krampe. Ich hab keine Lust, am Ende dieses vermaledeiten Turniers der Sieger unseres kleinen ‚Wer scheitert am schönsten‘-Wettbewerbs zu sein. Ich muss euch schon die ganze Zeit aufwarten, weil ich diese bescheuerte Wette verloren habe.“
Sie wandte sich Aardor zu und funkelte ihn zornig an: „Das ist übrigens deine Schuld! Du konntest es ja nicht sein lassen, gegen diese blöde Koscherin zu verlieren. Wenn Edelbrecht mich jetzt auch noch zum Krüppel sticht ... oder ich ihn ... oh, ihr Geister, wo bleibt denn da die Gerechtigkeit?“
„Nu hör schon auf zu heulen“, meinte Aardor ungerührt. „Begreif es als Chance. Erinner dich an die erste Runde des Fußkampfs. Da ist Edelbrecht gegen diesen Nordmärker Schönling ausgeschieden, der den Schwertkampf sicher auch nicht so gut beherrscht wie er.“
„Ja klar, eine Chance! Weil der Prinz in ein und demselben Turnier gleich zweimal so unsäglich viel Pech haben wird!“
„Vielleicht solltest du was trinken, Base“, meinte Algirdas schmunzelnd. Er erinnerte sich noch gut daran, wie sehr sie Aardor und ihn im Vorfeld des Fußkampfes gescholten hatte, weil sie zur Entspannung ein bisschen was pichelten. Aber jetzt schien sie ganz dringend einen Schluck zu brauchen. „Mach dich mal locker!“