Geschichten:Lagebeobachtungen - Wort oder Schwert?
Schloss Morgenfels, Mitte Rondra 1035 BF
Das Tonnengewölbe war weiß verputzt, doch vom Schimmel der Jahre grau und fleckig geworden. Der Raum maß gewiss zehn Schritt in der Länge und fünf in der Breite, war drei Schritt hoch. Aus vergitterten Öffnungen in Überkopfhähe sickerte Tageslicht aus dem Innenhof des Schlosses in das Gewölbe, das außerdem mit Kerzen erhellt war, die vor bronzenen Blakern flackerten. Deren Licht war warm und gelb, doch das Gewölbe war feucht und kühl. Es waren die Mauern, die langsam der Ewigkeit entgegen schimmelten, von denen der Geruch stammte.
Ein einsamer Tisch stand in der Mitte des Raumes. Vor dem Tisch und hinter dem Tisch stand je ein Stuhl. Das Holz der Sitzflächen war schwarz gesessen, die Tischplatte von der Benutzung geglättet.
Mit einem lauten Klacken wurde ein Riegel zurückgeschoben, eine schwere Tür quietschte in ihren Angeln, zwei Gerüstete führten Gerdtian Gerheim in das Gewölbe. Er sah unglücklich aus – und dreckig. Seine Robe war wie die Farbe des Gewölbes, nur fleckiger, das Haar fettig, der Bart ein Werk von mehr als einer Woche.
»Setzen«, kommandierte einer der Wachmänner, und Gertdian plumpste auf den einen der beiden anderen Stühle. Hier musste er warten. Warten. Warten. Dieser Beschäftigung ging er schon seit seiner Abreise aus Sertis nach. Aber ist Warten eigentlich eine Beschäftigung? Ist es nicht eher so, dass man sich während des Wartens beschäftigte? Ist Warten also eher ein Zustand als eine Tätigkeit? Welche Bedeutung hatte Warten im Zusammenhang mit seiner zeitlichen Komponente: Warten implizierte immer das Verstreichen von Zeit, war selbst aber eigentlich nicht Teil derselben. Warten erschien Gerdtian mehr wie eine Lücke zwischen den Dingen, also eine Art Nichts zwischen Etwas. Ist der Wartende also ein Teilhaber der Lücke? Immerhin – das war klar – war ein Wartender kein Nicht-Seiender, denn die andere Komponente des Wartens war die Gebundenheit an ein Subjekt. Warten ist das Kommenlassen. Welches Kommen uns doch überall und jederzeit, auch wenn wir seiner nicht achten, umwest. Im Warten sind wir reine Gegenwart. Und sonst nichts. Wir sind so rein, daß auch nirgendwoher mehr uns etwas entgegensteht, woran wir haften könnten und worein wir uns noch retten möchten. Sobald wir dies aber vermögen, etwas in dem zu lassen, worein es als in sein Wesen eingelassen ist, dann sind wir wahrhaft frei. Im Lassenkönnen, nicht im Anordnen und Beherrschen beruht die Freiheit. Diese banalen Gedanken hatte Gerdtian allerdings schon am ersten Tag abgeschlossen und sich seitdem mehrfach darüber aufgeregt, dass er nichts zu lesen bekam und auch sonst nichts zu seiner Beschäftigung als Wasser, Brot und einen Aborteimer. Und dieser Sorte Beschäftigung wohnte nur eine sehr beschränkte Kausalverbindung inne.
Das Licht im Hof nahm schon ab, als erneut der Riegel klackte und mehrere Personen das Gewölbe betraten.
Auf den Stuhl gegenüber setzte sich ein schlanker Mann mit hoher Stirn und dunklem, ergrautem Haar und einem Bärtchen um das spitze Kinn. Die freigeschabte Oberlippe wirkte prätentiös, die Kleidung hingegen konventionell. Am rechten Ringfinger prangte ein schwerer eiserner Ring mit dem Zeichen des Fuchses: ein Diener der Königin.
»Wozu Bildung?«, begann der Mann plötzlich das Gespräch.
Gerdtian benötigte einen Augenblick, um mit der Eröffnung zurechtzukommen, dann antwortete er: »Bildung befreit die Seele des Menschen und befähigt ihn, die Schöpfung der Götter zu erkennen und in ihr göttergefällig zu leben.«
»Der Erste Lehrsatz des Göttlichen Nandus, ist bekannt. Eine formelhafte Antwort, Gerdtian. Bildung scheint also ein Wert an sich zu sein, der jedem Menschen zukommt. Was ist mit Zwergen und Elfen?«
»Für sie gilt das gleiche, selbstverständlich.«
»Sind es danach auch Menschen?«
»Nein, sie bleiben Zwerge und Elfen. Aber ich weiß, worauf Ihr hinauswollt, diese Frage stellt schon Valdara von Mersingen in ihrem Dritten oder Vierten ›Gespräch mit dem Weisen. Es geht um die Frage, ob Lernen und sich Bilden für jeden Menschen denselben Zielzustand erreichen oder ob die Herkunft nicht entscheidend ist, bis zu welchem Ziel man gelangt. Wie Ihr wisst, hat der Weise geantwortet: Die Herkunft ist wichtig, aber die Herkunft des Geistes, nicht des Blutes. Also auch nicht der Rasse.«
»Das Dritte Gespräch mit dem Weisen. Du hast Recht. Mit der Quelle der Frage. Du weißt aber auch, dass alle Kommentare seit dieser Zeit – angefangen von Valdaras eigenem – die Herkunft anders beurteilen, insbesondere wenn es um Recht und Gesetz geht? Natürlich weißt du das. Wenn zwei das Gleiche tun, ist es nicht das gleiche – ein mindestens so bedeutender Grundsatz wie dein Erster Lehrsatz. Die göttliche Ordnung fußt darauf, dass eben nicht alle gleich sind, weil sie erstens unterschiedliches Herkommen, zweitens unterschiedliches Schicksal und drittens unterschiedliche Aufgaben in der Welt haben.«
»Das ist ja das Schlimme! Genau diese Zustände müssen sich ändern!« Gerdtian sagte dies apodiktisch, aber nicht besonders aufgeregt.
»›Diese Zustände‹ beschreiben allerdings ziemlich genau die Zwölfgöttliche Ordnung, die jedem Menschen seinen Platz gemäß seines Standes – also seines Herkommens – zuweist.«
»Aber nein – die Zwölfgöttliche Ordnung trifft diese Unterscheidung doch gar nicht in dieser Weise. Es ist Menschenwerk, was die Worte der Götter überschrieben hat. Es waren vor allem die Mächtigen, die um ihrer Macht willen die natürlichen Gesetzmäßigkeiten pervertiert haben. Natürlich ist in diesem Fall selbstredend göttergewollt.«
»Ist das so?«
»Das legen die Schriften der Weisen nahe. Es gibt ausreichend erleuchtete Quellen, die dem Gelehrten den Weg durch das Dickicht der Propaganda der Mächtigen weist. Nicht zuletzt geben ja auch die Zeitläufte der Naturinterpretation Recht.«
»Wie meinst du das, Gerdtian?«
»Es ist doch klar, dass eine ungerechte Herrschaft zu katastrophalen Zuständen führen muss – Unruhen, Hungersnöten, Seuchen, Missernten, Kriege: Tod. Die Götter stellen uns vor die Aufgabe, zu lernen und uns das Rüstzeug zu beschaffen, um ein gerechtes Leben zu führen – auch als Herrschender. Versagen wir in dieser Aufgabe, müssen wir uns prüfen: Liegt es an uns? Welche Defizite haben wir persönlich verschuldet? Ist die Herausforderung zu meistern oder müssen wir resignieren? Hier wörtlich verstanden als: die Insignien abgeben. «
»Kommt mir bekannt vor. Das ist eines der Argumente für Demokratie: Der Wechsel der Herrschaft, in dem jene, die am Ende ihres Bosparanos sind, durch solche ersetzt werden, die zu den besten ihrer Gesellschaft gehören.«
»Das wäre – eigentlich – eine Aristokratie. Allein in dem Wort steckt die ganze Perversion der Mächtigen: Aristokratie soll die Krateia der Aristoi sein. Aber die Mächtigen haben daraus gemacht: Herrschaft des Adels.«
»Es wurden schon Menschen aus weit geringeren Gründen gevierteilt, als du sie da von dir gibst.« Der schmale Mann wirkte erbost. Seine Augen blitzten. Gerdtian schwieg daraufhin. Er hatte offenbar vergessen, dass er sich in keinem wissenschaftlichen Disput befand. Außerdem hatte er sich nach den Tagen im Kerker ungewohnt banal ausgedrückt – vielleicht auch in Anpassung an sein Gegenüber?
»Was passiert am Prüfungsfest in Eslamsgrund, Gerdtian?«
Gerdtian schwieg. Er starrte auf seine Hände, die er auf der Tischkante gefaltet hatte.
»Wer ist das Einhorn? Wer hat den Brief noch erhalten, der dir zugegangen ist? Wie heißen deine Komplizen? Welches Ziel verfolgt ihr? Plant ihr einen Anschlag«
»Ich weiß es nicht. Ich habe nur das Schreiben eines Bruders erhalten, das vor allem das Ziel verfolgt, unsere Welt besser zu machen. Wir, die Geweihten des Nandus, sind Leute der Feder und des Wortes. Wir planen doch keine Anschläge!«
»Aha. Es macht aber alles den Anschein einer Verschwörung, Gerdtian. Einer Verschwörung gegen eine als ›ungerecht‹ empfundene Herrschaft!«
»Unsinn! Wir richten zwar das Wort gegen das Unrecht, gegen Willkür, Tyrannei und Barbarei, aber doch nicht mittels Anschlägen! Unser Werkzeug ist allein das Wort.«
»Das Wort! Du bleibst in Haft, bis ich entschieden habe, ob du der Inquisition übergeben werden musst oder vor ein weltliches Gericht gehörst. Wir werden ja sehen, was mächtiger ist: Das Wort oder das Schwert! «
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