Geschichten:Mich seht ihr nicht - Das Ende eines Verräters
Am nächsten Tage blieben einige im Lager zurück, um den gefangenen Unsichtbaren (oder war es jetzt ein unsichtbarer Gefangener?) zu bewachen, unter ihnen Ahrenstedt, für den der Delinquent Priorität hatte.
Die anderen schwärmten in das beschriebene Tal aus und näherten sich wie eine Meute jagender Wölfe dem Trupp des Kollbergers; man hoffte, dieser werde erst am Folgetage aus seinem Versteck kommen, wenn er die Waffenlieferung erwarte. Und richtig: In den frühen Nachmittagsstunden sahen sie das Lager der Kollberger Reiter vor einem Höhleneingang. Man beschloss, die Nacht abzuwarten und dann im Morgengrauen zuzuschlagen.
Gesagt, getan: Als die Nacht sich dem Ende zugeneigt hatte und die Verfolgten bald aufstehen würden, schlugen die Jäger zu. Die Überraschung glückte fast vollständig, nur zwei Gestalten konnten dem Lager entfliehen. Der linken folgten Lyn und Selo, der rechten Wallbrord und Geshla in den Wall.
Endlich, die Fährte, der Wallbrord und Geshla gefolgt waren, verlor sich nicht wie befürchtet, sondern führte sie geradewegs zu einer Höhlung im Fels. Der Baron zu Vellberg hatte gerade noch aus den Augenwinkeln mitbekommen, wie der Gesuchte in eine Höhle geflohen war und setzte ihm weiter nach, derweil die Baronin zu Gnitzenkuhl so rasch es ging die mitgeführte Blendlaterne entzündete. Vom Jagdfieber gepackt, verständigten sich die Beiden mit nur wenigen Blicken, der Sache hier selbst ein Ende zu bereiten und nicht das Risiko einzugehen, dass der Verräter neuerlich flieht, wenn sie erst die Anderen holten.
Am Eingang der Höhle hielt der Baron kurz inne, um sich zu orientieren und zu Atem zu kommen. Er wartete mit gezogener Waffe noch einen kurzen Moment, bis Geshla endlich die Laterne entzündet hatte.
"Wir sollten ihn uns zusammen vorknöpfen. So können wir ihn leichter aufspüren und überwältigen. Nicht, dass der Mistkerl uns am Ende noch im letzten Moment entkommt." Wallbrord nickte nur kurz und gemeinsam erkundeten sie mit gezogenen Waffen die vor ihnen liegende Dunkelheit. Die Höhle war weit größer als angenommen, ein wahres Labyrinth voller Abzweigungen, blinder Gänge und leerer Räume. Offensichtlich schienen Einheimische sie von Zeit zu Zeit aus welchen Gründen auch immer als Unterschlupf zu nutzen.
Die beiden Adligen hatten bereits einen Gutteil des Höhlenkomplexes erkundet, ohne dabei eine Spur Terrebors zu finden, als Geshla Wallbrord mit zerknirschter Miene zuraunte: "Ähm, ich weiß wie dumm das jetzt klingt, aber ich muss ganz dringend ums Eck, es dauert nicht lange."
Der Oberst sah sie völlig entgeistert an, kannte aber die schwache Blase der von Tsa Gesegneten bereits aus anderen Situationen: "Das fällt euch jetzt ein? Hättet ihr euch nicht vorhin kurz in die Büsche schlagen können? Gut, ich warte hier, aber beeilt euch. Wir wissen schließlich immer noch nicht, wo der Mistkerl sich hier versteckt."
Die Gnitzenkuhlerin nickte peinlich berührt, steckte ihre Waffe weg und verschwand in das nächste Gangstück. Dieses entpuppte sich im fahlen Schein der Laterne als kleine natürliche Kammer mit einem weiteren Ausgang rechts von der Adligen. Diese wollte sich gerade um ihr dringendes Bedürfnis kümmern, als aus dem anderen Gang mit gehetztem Blick Terrebor hereingestürzt kam. Beide erstarrten für einige endlos scheinende Augenblicke in ihren Bewegungen, als sie einander erkannten. Der Verräter gewann als erster die Fassung wieder, stürzte sich auf die Baronin, nahm sie in den Schwitzkasten und hielt ihr seinen Dolch an den Hals. "Welch unerwartetes Vergnügen, Dich ausgerechnet hier wiederzusehen," zischte er ihr ins Ohr. "Ich kann doch wohl davon ausgehen, dass Du mir gerne dabei behilflich bist, diesen ungastlichen Ort unbeschadet zu verlassen, nicht wahr? Wir haben außerdem eine ganze Menge zu besprechen. Vielleicht erzähle ich Dir danach auch ein paar höchst aufschlussreiche Anekdoten über Deinen Begleiter, diesen Ausbund an Reichstreue."
"Ich möchte ja nicht drängen, werte Geshla, aber wir haben hier nicht ewig Zeit. Wenn Ihr also-"
Wallbrord hatte, als er den kleinen Raum betrat, aus Taktgefühl zu Boden geschaut und daher erst recht spät bemerkt, dass seine Begleiterin nunmehr eine Gefangene des Verräters war. Der Oberst packte sein Schwert fester, als er die Situation erkannte. "Terrebor von Kollberg nehme ich an? Weg mit dem Dolch, Deine Flucht hat hier ein Ende!" Der Angesprochene lachte kurz auf: "Sonst noch Wünsche? Weiß unsere liebe Geshla eigentlich, daß Ihr ... arrgh!" Die gar nicht so liebe und mitnichten wehrlose Adlige hatte den kurzen Moment der durch Wallbrord verursachten Ablenkung genutzt und ihrem Peiniger kraftvoll ihren rechten Ellenbogen in die Seite gerammt. Der Kollberger stöhnte kurz auf und löste den Griff um seine Gefangene, welche sofort geschickt aus seiner Reichweite stolperte. Der Oberst nutzte die Gunst des Augenblicks ebenfalls, warf sein Schwert zur Seite und stürzte sich auf seinen Gegner. Dieser knallte mit dem Hinterkopf gegen die Felswand und ließ benommen seinen Dolch fallen, den Wallbrord in einer fließenden Bewegung aufnahm und seinem Kontrahenten fast bis zum Heft in die Brust rammte. Ein kurzes Röcheln und Terrebor von Kollberg hatte die Welt der Lebenden verlassen.
"Es ist vorbei," sprach der Vellberger lakonisch. "Wir sollten uns nun auf die Suche nach unseren Mitstreitern machen und zumindest den Kopf dieses Mistkerls als Beweis unseres Erfolgs mitnehmen."