Geschichten:Natternbrut - Alles wird gut

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Burg Sturmwacht, Mittagsstunde des 1. Praios 1036 BF

Das Klingen des Gongs drang bis hinauf in den trutzigen Wehrturm, den einzigen Ort dieser elenden Burg, an dem sich Selinde von Spornstein wohl fühlte. Genauer gesagt war der Keller jener Burg dieser Ort, dessen feuchte Kühle und schummrige Dunkelheit ihr das Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit bot. Bleich und mit klopfenden Herzen behielt sie die schwere Eichentür fest in ihrem starren Blick, bereit sich sofort hinter einem der vielen vergammelten Fässer zu verkriechen, wenn es denn sein musste.

Die Bürger des nahen Marktes Nadriansfurt hatten an diesem hohen Feiertag zu Ehren des Götterfürsten den verschlossenen Praios-Tempel wieder geöffnet und den goldenen Gong inmitten der sonnenüberfluteten Sonnenkammer zwölfmal geschlagen. Seitdem der frühere Geweihte an einem verregneten Tag im Herbst vor acht Jahren vor sie getreten war und ihnen verkündet hatte, dass das Licht des Götterfürsten verschwunden sei und er sich nun auf die heilige Quanionsqueste begeben wolle, hatte kein Bürger mehr das Gebäude betreten. Lediglich die alte Rondra-Geweihte Leugrimma von Schallenberg-Windischgrütz, welche den Schlüssel zum großen Portal des Tempels aufbewahrte, hatte von Zeit zu Zeit dort nach dem Rechten gesehen und in den Kammern mit einem Reisigbesen den ärgsten Staub beseitigt. Die Ankunft der von ihrem neuen Junker bestallten Vögtin hatte die Stadtvordersten schließlich dazu bewogen, das erste Jahr nach dem Ende der langen Grafenfehde und die neue Herrin ihres Marktfleckens auf diese besondere Weise zu begrüßen. Denn nun, da waren sich alle Bewohner von Nadriansfurt einig, würde alles wieder gut werden.

Tief in ihrem Keller hörte Selinde das Wummern des Gongs. In ihr blieb es stumm.

Mit einer schnellen Handbewegung griff sie nach der Grille, die sich aus der sommerlichen Wärme hierher hinunter in die Dunkelheit verirrt hatte. Mit ausdruckslosen Augen starrte die Burgvögtin das hektisch zappelnde Insekt an, dann öffnete sie den Mund und steckte das Kerbtier hinein. Mit einem trockenen Würgen schlang sie ihre Beute hinab.

»Du musst unbedingt dieses köstliche Gericht probieren«, flüsterte sie zu einer Gestalt, die in einer dunklen Ecke mit vorübergebeugten Kopfe zu kauern schien. »So gutes Zeug haben wir schon lange nicht mehr bekommen.«

Ihre Stimme verhallte in dem feuchten Gewölbe. Keine Antwort.

»Ja, du hast völlig Recht. Was sagst du, mein Liebling? Ach, richtig, das hätte ich beinahe vergessen«, auf beiden Knien robbte die Ritterin auf die dunkle Ecke zu und stoppte eine Handbreit vor der kauernden Gestalt. »Gleich morgen bringe ich dich zu ihr, dann wird sie dich küssen. So wie mich. Dann sind wir wieder vereint. Dann ist alles wieder gut.«

Mit ihren schmutzigen Händen strich die Kaisermärkerin zärtlich über den Kopf der leblosen Gestalt, streichelte die fleckigen Wangen und nickte lächelnd, als stimmte sie den Worten einer lebenden Person zu. Streichelte das struppige und dreckige Haar und schmiegte sich an den Körper an, den seit den Ereignissen des gestrigen Tags jede Wärme verlassen hatte.

»Mein Liebling, bald wird wieder alles so sein, wie es gewesen ist«, hauchte sie in die tauben Ohren, küsste den stummen Mund und steckte ihre gespaltene Zunge in das kalte Loch im Kopf ihres verstorbenen Gatten. Sie nahm die steife violette Hand und führte sie hinab zu ihren Brüsten, ließ sie ihren Bauch hinabgleiten bis an jene Stelle, wo die kalten unbeweglichen Finger wieder Haare berührten. »Nicht wahr, mein Liebling, wenn du erst ihren Kuss empfangen hast, dann werden wir wieder zusammen sein.«

Schwere Tritte vor der Tür ließen sie aufschrecken, und instinktiv glitt sie in eines der umgefallenen Fässer, noch bevor der Fackelschein den Kellerraum erleuchtete. Zwei der Schlunder Hügelzwerge, die der Nettersqueller ihnen als Bedeckung mitgeschickt hatte, steckten ihre Nase in die modrige Luft und schüttelten angewidert den Kopf. Mit dunkler Stimme raunte der eine Zwerg dem anderen Zwerg etwas auf Rogolan zu. Der erwiderte ein stummes Nicken und wie sie gekommen waren, verschwanden sie in den lichten oberen Teil der Burg.

Mit starrem und bewegungslosem Blick schaute ihnen die bleiche Burgvögtin hinterher. Sie fühlte nichts. Aber sie wusste: Alles würde gut werden.




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1. Pra 1036 BF zur mittäglichen Praiosstunde
Alles wird gut
Abgehalfterte Kaisermärker


Kapitel 2

Der Festung geborstenes Herz
Autor: Hartsteen