Geschichten:Neues aus Gerbenwald - Die Katakomben von Balsant
Herrschaft und Gut Balsant, Ende Efferd 1045 BF
Über dem Eingang stand das alte Sprichwort: “Stammherz den Lebenden, Balsant den Toten.” Ein Sinnspruch, dessen Ursprung und Bedeutung schon lange nicht mehr klar war, den dennoch jeder kannte und gern rezitierte und der stets ein gewisses Unbehagen mit sich brachte und einem einen kleinen Schauer über den Rücken laufen ließ. Wie auch die Stimmung, die seit jeher über dem Ort lag. Ein Turm des Gebäudes, das sie gerade verließen, war eigentümlich geformt und erinnerte vage an eine Amphore oder Kanope. Nichts was den anwesenden jedoch noch seltsam vorkam, da sie diesen Umstand schon lange kannten.
Das Gut hinter sich lassend, hielten sie auf die nahen Felswände zu, welche verwitterte und überwucherte Darstellungen des Lokalheiligen Bal’Samath zeigten. Normalerweise waren diese kaum noch zu erkennen, aber man hatte an einer Kutschgespann großen Stelle das üppige Gestrüpp entfernt, so dass nicht nur die alten Darstellungen besser zu erkennen waren, sondern sich auch so etwas wie die Reste eines Türgiebels vage abzeichneten.
“Da ist es, Chal’Shuni Ruthari, das Tor, dass wir freigelegt haben.”, Laruscan von Schurr sprach wie immer in einem völlig emotionslosen Ton. “Ich hatte befohlen, die Gesteine und Erden der Wände zu inspizieren, da seine Farbe meinen Werken eine besondere Note geben könnte.” Nur seine Leidenschaft, das Töpfern, brachte etwas Gefühl in seine Stimme.
Die Gruppe, bestehend aus Hala, Laruscan, einem Geländekundigen und einem weiteren Waffenknecht, betrat die alten Grotten, wobei der Fackelschein ihre Schatten über die verwitterten Steinwände warf. Das Gemurmel eines kleinen Untergrundbächleins und das leise Tropfen von Wasser verstärkten die Atmosphäre der Geheimnisse, die in diesen uralten Höhlen lauerten. Als sie tiefer in die Dunkelheit eindrangen, wurden die Gänge enger, und das Gefühl von Unbehagen wurde intensiver. Die alten, verwitterten Steinritzungen machten es nicht besser.
Plötzlich hörten sie ein leises, seltsames Geräusch, das beinahe wie Wispern klang, gefolgt von einem leisen Kratzen. Die Gruppe erstarrte. Ein Schatten tauchte aus der Dunkelheit auf, eine groteske Kreatur mit feucht-glänzenden Augen und furchterregenden Klauen, einem verzerrten Riesenolm gleich. Ein unheimlicher Schauder durchzog die Gruppe, als die Kreatur näher kam.
Laruscan zog, mehr aus Mangel an Möglichkeiten, sein Säbel, und Hala, von Entschlossenheit erfüllt, stellte sich schützend vor die anderen. Die Kreatur, eine lebendige Grottenbestie, griff an, ihre klauenbewehrten Arme in einem tödlichen Tanz.
Hala schwang ihr Schwert geschickt, parierte die Angriffe und versuchte, die Kreatur zu verscheuchen. Der Kampf in der dunklen und engen Grotte war erbittert, aber Hala zeigte unglaubliche Geschicklichkeit und Stärke. Mit drei, vier kraftvollen Hieben gelang es ihr schließlich, die Bestie zu vertreiben, die sich ins Unbekannte zurückzog.
Ein Moment der Atempause erfüllte die Grotte, bevor die Gruppe weiter in die Tiefe vordrang. Sie erreichten schließlich einen großen Raum, der mit alten Relikten gefüllt war, u.a. Kanopen, die Deckel in Schackalskopfform aufwiesen. An den Wänden waren Balsamiertengel und -tiegel, kunstvoll in Pose gesetzt, in Nischen aufgereiht. In der Mitte des Raumes befand sich ein Altar, geschmückt mit den Symbolen von Bal'Samath und solchen, die Laruscan aus den Familienchroniken kannte. Hier mussten die Ahnen die Toten vorbereitet haben, um ihnen einen leichteren Übergang zu ermöglichen, ging es ihm durch den Kopf.
Ein Hauch von Ehrfurcht erfüllte die Gruppe, als sie die vermeintlichen, alten Traditionen der Familie Schurr betrachteten. Laruscan erinnerte sich an die Legenden, die von einem Ahnen sprachen, der einst eng mit Bal'Samath verbunden oder gar dieser selbst gewesen war – ein Priester, Heiler oder Totenzauberer, der die Kunst der Balsamierung perfektioniert und so angeblich das Erbe seiner Familie begründet hatte. Dies hier schienen seine Hinterlassenschaften zu sein und sie hatten so lange unentdeckt vor ihren Füßen gelegen.
Doch plötzlich erklang ein tiefes, seltsam durchbrochenes und unscharfes Grollen, das sie aus ihren Gedanken riss und schien Boden unregelmäßig zu beben. Die Katakomben, die so viele Jahrhunderte im Verborgenen gelegen hatten, schienen lebendig zu werden. Ein Spalt öffnete sich im Boden, und aus ihm strömte ein dunstiger Nebel, der zwischendurch flackerte, als würde er nicht wissen ob er echt oder real war. Formlose, komisch verzerrte Schatten erhoben sich und nahmen die unstete Gestalt von uralten Kriegern an, die einst die Familie Schurr beschützt hatten. Ob dies nur in ihren Köpfen oder leibhaftig geschah, vermochten sie nicht zu sagen und einen Unterschied machte das beileibe nicht, alle erstarrten. Der Geländekundige Maran rang gar mit der Ohnmacht.
"Die Toten...sollen ruhen!" hallte kurz unterbrochen eine unklare Stimme durch den Raum. Es waren die Geister (oder Trugbilder) der Krieger, die den Eindringlingen gegenüberstanden. Hala, von Entschlossenheit erfüllt, trat vor und sprach mit eindringlicher Stimme: "Dies ist Laruscan han Shur’em Shar, Edler von Balsant, er ist hier, um die Ehre seiner Ahnen wiederherzustellen und das Vermächtnis seiner Familie zu ergründen und bewahren. Wir bitten um eure Gunst, tapfere Geister, Krieger einer längst vergessenen Zeit, die dennoch ehrvoll ihre Pflicht tun."
Die Krieger schienen zu kurz verweilen, flackerten, es war nicht klar, ob sie gleich zum Angriff ansetzen oder gehen würden, aber schließlich verschwanden sie im Nebel-Dunst. Ein Moment der Stille erfüllte die Katakomben, bevor sich der Nebel langsam lichtete und die Geister gänzlich verschwanden. Der Raum schien sich zu beruhigen, und ein Gefühl des Friedens kehrte zurück.
Die Gruppe stand nun allein vor den Relikten ihrer Familie, tief berührt von der Begegnung mit den Geistern der Vergangenheit.
Doch schien das nicht das Ende gewesen zu sein, denn plötzlich trat ein weiterer einzelner Geist aus dem Nebel, schärfer und steter in seiner Gestalt und gekleidet in eine antike, arachaische Rüstung aus Ton mit einem Schackalskopf oder -helm. Er trug eine Aura der Weisheit und Autorität um sich herum. Er wandte sich an Laruscan und sprach mit einer tieferen Stimme: "Ihr seid der Wächter unseres Erbes. Euer Pfad ist mit Herausforderungen gesäumt, und Eure Treue wird auf die Probe gestellt. Beantwortet meine Frage, und von euren Antworten hängt mein Wohlwollen, Leben und Tod ab. Die Segnungen der Ahnen werden euch gewährt, wenn eure Worte wahrhaftig sind." Die Gruppe hatte erneut das Gefühl, die Katakomben würden zu beben beginnen, heftiger diesmal, so das einzelne Gesteinsbrocken herunter fielen. Alles wirkte instabil und als könnte es sie alsbald begraben. Der Geländekundige Maran und der Waffenknecht Filadir versuchten sich vor den Steinen in Sicherheit zu bringen, ersterer wurde allerdings deftig von einem Brocken getroffen und blutete.
Der Schakalsköpfige Geit stellte seine Frage, die die tiefsten Überzeugungen von Laruscan (und Hala) herausforderte. Hala antwortete zu erst mit festem Blick und fügte hinzu: "Ich spreche nicht für die Schurrs, aber trage die Tradition meiner Familie in meinem Herzen, ich blicke dadurch gestärkt in die Zukunft. Die Ahnen weisen mir den Weg, und ich werde sie ehren, indem ich alte und neue Bräuche in Einklang bringe."
Laruscan hingegen, dessen gewöhnlich emotionslose Stimme jetzt von Ernsthaftigkeit durchzogen war, antwortete ebenfalls und ergänzte zum Schluß: "Es ist nicht nur Tradition, die mich leiten soll, sondern viel mehr ein erneuter Wille und ein wiederentdeckter Sinn. Die Toten zeigen mir den Weg zurück ins Leben. So will ich beidem dienen."
Die Geistergestalt mit dem Schackalskopf neigte sich ehrfürchtig und verschwand dann im Nebel. Ein weiterer Moment der Stille verweilte in den Katakomben, das Beben, die Furcht, die stürzenden Steine, waren gegangen. Hala war bestärkt darin, dem Ruf ihres Lehnsherren hierher gefolgt zu sein, sie konnte Schild und Schwert der Nebachoten in Gerbenwald sein und Laruscan beschloss, sich den neuen Herausforderungen zu stellen und die Wiederauferstehung der alten Balsamierer-Tradition fortzusetzen und den alten Riten zu folgen und daraus zu lesen.