Geschichten:Perricumer Ratsgeschichten – Die rechte Hand zur rechten Zeit

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Die rechte Hand zur rechten Zeit

Reichsstadt Perricum, 18. Boron 1037 BF, am späten Nachmittag

Am frühen Nachmittag hatte es zu nieseln begonnen, so ziemlich genau in dem Moment, als Corthin den Heimweg antreten wollte. Also knöpfte er den Mantel zu, zog den Hut tiefer in die Stirn und marschierte los. Einen dritten Schnaps hatte er noch getrunken, dann aber dankend abgelehnt, als Korwyn eine weitere Runde hatte einschenken wollen. Irgendwie saß der Schock doch noch tief.

Er atmete die kühle Luft ein, die den Geruch der See mitbrachte. Er lebte gern hier in Perricum, am Meer. Und doch war es wieder einer dieser Momente, in denen er an seine Schwester Selissa denken musste; sie hatte das Meer geliebt und war zur See gefahren, bis sie eines Tages auf einem Schiff angeheuert hatte, das ins Güldenland segeln wollte – und nicht mehr zurückgekehrt war.


Vielleicht tat die frische Luft seinem Kopf doch ganz gut. Also beschloss Corthin, doch nicht auf direktem Wege nach Hause zu gehen, sonder eine Runde durch die Stadt zu drehen; einfach auch, um die Stimmung in der Bevölkerung aufzufangen. Am gestrigen Tag hatte er sich gar nicht vor die Tür gewagt und war heilfroh gewesen, das er zuvor nach der schicksalhaften Ratssitzung unbeschadet nach Hause gekommen war. Mit einem Kloß im Hals erinnerte es sich an den ersten, fast weniger spektakulären Aufruhr, als er selbst nicht anders konnte und im Amte des Söldnerobristen mit den städtischen Truppen für Ruhe sorgen musste. Er war kein Kriegsherr, sondern derjenige, dem die Truppen unterstanden und der im Zweifelsfalle bestimmte, was zu tun war und Befehle ausgeben musste. Doch dabei die Truppen in den Kampf zu führen war seine Sache nicht, und noch einmal wollte er dies nicht tun müssen. Gerade jetzt, wo alles den Darpat heruntergehen konnte, kam es darauf an, die Ordnung notfalls mit Waffengewalt zu erhalten, wenngleich dies nicht oberstes Ziel sein konnte. Krieg war gut für’s Geschäft, ohne Frage, denn am Kriegsvolk verdiente er mit seinen Waren gutes Geld – doch inmitten von Kämpfen leben wollte er nicht.

Die Bürger ließen ihn weitestgehend in Ruhe, wen sie ihn erkannten, einige grüßten freundlich, andere ignorierten ihn. Niemand griff ihn an, auch nicht mit Worten, also marschierte er weiter. Der Rat war geschrumpft, die Beiräte aus Klerus und Magierstand verbannt, der Reichsvogt verschwunden. Die Bürger der Stadt hatten nun die Macht, allen voran Odoardo von Quintian-Hohenfels, der in den vergangenen Wochen sehr ins Bewusstsein der Perricumer gerückt war und als Kämmerer die Kassen der Stadt prall zu füllen gewusst hatte. Es blieb nur zu hoffen, dass dies auch so blieb und der als Liebhaber alles Schönen bekannte Odoardo nicht Gelder für unnützen Tand verprasste. Letztlich traute Corthin im kaum über den Weg, wenngleich sie zuweilen am gleichen Strang gezogen hatten, waren sie doch alles andere als Freunde.

„Hey, da ist Rutaris! Kommt, den schnappen wir uns!“ Ein paar abgerissene Gestalten tauchten unvermittelt aus einer Seitenstraße auf. Corthin beschleunigte seine Schritte. Sie waren mindestens zu dritt, wie er durch einen schnelle Blick über die Schulter feststellte. Allein hätte er keine Chance. Hinter ihm wurden die Schritte schneller, also wurde auch er schneller. Doch er hätte besser laufen sollen, wenngleich das mehr Aufmerksamkeit erregt hätte, denn schon waren die Gestalten heran, und eine Hand an der Schulter riss ihn herum.

„Noch einer von den Pfeffersäcken, den machen wir fertig!“ Fauliger Atem, nach Alkohol stinkend, schlug ihm entgegen; er roch es, obwohl er selber getrunken hatte. Es gelang ihm, sich unter der heranfliegenden Faust hinwegzuducken, wobei er dem Angreifer selber einen Schlag in die Magengrube versetzte, was diesen zusammensacken und sich auf dem Pflaster übergeben ließ. Doch insgesamt waren es fünf, wie Corthin nun feststellen musste. Schon wollte er sich umdrehen und das Hasenpanier ergreifen, als er schwere Stiefelschritte vernahm. Ein Patrouille der Stadtwache kreuzte die Straße, und Corthin reagierte schnell.

„Heda, hierher!“

Die Gardisten verfielen in Laufschritt. Corthin lachte, als er eine der Gardistinnen erkannte; es war Kathaya, die Tochter seine Base Elara. „Nehmt die da fest!“ befahl er. „Tätlicher Angriff auf ein ehrenwertes Mitglied des Magistrats lautet der Vorwurf!“

Zwei der Angreifer waren schneller als die Gardisten. „Lasst sie laufen“, ordnete Corthin an. „So verbreitet sich die Kunde, das wir keinen Widerstand dulden!“

„Alles in Ordnung, Onkel Corthin?“ fragte Kathaya, derweil die übrigen Gardisten die drei verblieben Schläger in Gewahrsam nahmen.

„Jaja, schon gut. Es sind schwere Tage eben… Ich hoffe, wir müssen uns nicht an so etwas gewöhnen.“ Dann wandte er sich an alle. „In den Kerker mit denen. Die Verhandlung erfolgt frühestens in einer Woche, besser erst in zweien. Und nur Wasser und altes Brot!“


Entgegen Kathayas Angebot, ihm Geleitschutz bis nach Hause zu geben, setzte er seinen Weg alleine fort, nun aber auf direktem Wege. Der Nieselregen war abgeklungen, und schwache Sonnenstrahlen suchten sich ihren Weg durch den wolkenverhangenen Himmel. Unbeschadet erreichte Corthin wenig später das Haus, das seine Werkstatt und Wohnung war, und trat ein. Der vertraute Geruch schlug ihm entgegen und gab ihm das Gefühl der Sicherheit, welche die eigenen vier Wände boten. Er schloss die Türe, sog den heimatlichen Duft ein und atmete dann, den Blick über sein Reich schweifen lassend, langsam wieder aus. Doch irgendetwas irritierte ihn – es war zu lehr, zu ungeschäftig. Nur Linnert hocke an seiner Werkbank und polierte einige Metallstück, und hinten an der Esse waren zwei seiner Gesellen damit beschäftigt, Draht zu ziehen; ansonsten war es still. „Wo sind die anderen?“ fragte er darum seinen Schwiegersohn.

„Draußen im Hof“, entgegnete Linnert. „Wir haben Besuch.“

„Besuch?“ fragte Corthin. „Wer?“

Linnert seufzte. „Schau selbst…“

Corthin schüttelte den Kopf. Dieser Tag, ach diese Woche war an Seltsamkeiten kaum mehr zu überbieten. Erst machte sich seine Jüngste unversehens auf Reisen in die Ferne, dann die vermaledeite Ratssitzung, und jetzt schon wieder eine Unwägbarkeit. Also marschierte er durch die Werkstatt hindurch zu Hintertür, die in den Hof führte – und stutze abermals, als er den neungezackten Spieß an Kiranees Werkbank lehnen sah.


Im Hof herrschte das geschäftige Treiben, dass er eigentlich um diese Zeit in der Werkstatt erwartet hätte, wobei geschäftig den Kern der Sache hier nicht recht traf. Raban und Yasinthe hockten auf Bank unter der Balustrade, Becher in den Händen; Chiara, seine jüngste Enkeltochter, ruhte friedlich in Yasinthes Arm. Mirella und seine Nichte Kira standen daneben. Kiranee hingegen, seine älteste Tochter, lehnte am schmalen Stamm des Pfirsichbaumes, der im Hof stand, und die Kinder bildeten einen großen Kreis um zwei Personen, auf deren letztlich alle Augen gerichtet waren: Tanit, eine älteste Enkelin und einen schwarzgerüsteten, muskelbepackten Kahlkopf. Tanit hielt ein Schwert in den Händen, einen maraskanischen Nachtwind, während der Schwarzgekleidete einen schweren Tulamidensäbel führte, den man landläufig Sklaventod zu nennen pflegte. Gemeinsam ließen sie die Waffen in identischen Bewegungen kreisen, und Tanit schaute mit abwechselnden Blicken auf die eigene Klinge und die des offensichtlichen Söldners.

Kiranee bemerkte die Ankunft ihres Vaters als erste.

„Was ist hier los?“ fragte Corthin stirnrunzelnd als er sie erreichte. „Und wer ist der geheimnisvolle Besucher da?“ Sein Kopf zuckte in Richtung der beiden Kämpfenden.

Kiranee holte hörbar Luft, dann sagte sie: „Sein Name ist Yastagir. Er ist Tanits Vater.“

„Sicher?“

„So sicher wie Mutter mich geboren hat“, erwiderte sie in fast beleidigtem Tonfall.

„Ist er das, was ich denke?“

„Das kommt darauf an, was Du denkst.“ Sie stand kurz vor jenem Gemütszustand, den ihr Schwager Raban für gewöhnlich als oberzickig betitelte, riss sich dann jedoch zusammen, als sich der Gesichtsausdruck ihres Vaters wandelte und förmlich ‚muss das jetzt sein?‘ zu fragen schien. „Ja, er ist ein Geweihter Kors“, setzte sie also nach.

Derweil hatten die Kinder die Ankunft ihres Großvater- respektive Großonkels bemerkt, und auch Tanit nebst ihrem Vater hatten Corthins Ankunft bemerkt. Vorsichtig reichte sie Yastagir das Schwert, der es in einer fließenden Bewegung in die Rückenscheide steckte und anschließend seinen Tulamidensäbel ebenso in einer ledernen Hülle verschwinden ließ.

„Soso, Ihr seid also mein verlorener Schwiegersohn, ja?“ Corthin blickte den Kriegspriester an, eine gewisse Forderung lag in seinem Blick.

Yastagir stutze kurz wegen der Bemerkung, fing sich aber schnell. „Ja. Wenn Ihr Meister Corthin Rutaris seid, heißt das.“

„Und was führt Euch hierher in mein Heim?“ fragte Corthin.

„Geschäfte. Und natürlich Töchter; Eure ebenso wie meine.“

„Ihr hättet Euch eher kümmern sollen.“

Kiranee trat heran und legte ihrem Vater die Hand auf die Schulter. „Vater, bitte. Es ist in Ordnung so, dass weißt Du auch. Denk an Mutter.“

Corthin seufzte. Dorinthe, seine Frau, hatte sich selber als Söldnerin verdingt, war gekommen und gegangen, selbst nachdem sie den Traviabund geschlossen hatten, und dann schließlich ein Jahr später geblieben, als sie mit Kiranee schwanger gewesen war. Er kannte das Söldlingsvolk, und wenn es doch nicht sein Lebenswandel war, so verdiente er aber gut an eben jenen, die dem Kriegshandwerk nachgingen.

„Also feiern wir hier eine Familienzusammenführung?“ Corthin blickte in die Runde.

„Zumindest ein Wiedersehen“, entgegnete Kiranee.

Da durchzuckte ihn eine Idee. „Steht Ihr eben unter jemandes Sold?“ wandte er sich an Yastagir.

Dieser schüttelte den Kopf. „Nein“.

„Gut. Dann tut Ihr es jetzt.“

Nicht nur Yastagir, auch Kiranee und die übrigen Erwachsenen, die zwischenzeitlich herangekommen waren, schauten Corthin fragend an.

„In bin der Söldnerobrist dieser Stadt,“ erklärte Corthin, „aber ich bin kein Krieger, sondern Handwerker und Ratsherr. Ich brauche, Nein, diese Stadt braucht jemanden, der meine Anordnungen umsetzt und die Truppen im Kampf führen kann. Ich will, dass diese Stadt sicher ist und jemand dafür sorgt, dass dem auch so bleibt; sicher für alle, für mich und meine Familie, und besonders für Eure Tochter.“ Damit wies mit einer Kopfbewegung auf Tanit. „Diese Stadt kann Euch brauchen, Yastagir, und ich bin derjenige, der darüber entscheiden kann. Und Eure Tochter braucht ihren Vater.“

Yastagir setzte zu einem Nicken an, doch dann stoppte er. „Wieviel?“

„Ihr werdet an Sold bekommen, was nach dem Kodex gerecht ist, und vielleicht noch etwas mehr. Und ihr bekommt eine Heimat.“ Er hoffte, nicht zuviel zu versprechen, doch dies war nichts weiter als ein Handel, und Handel war phexgefällig. Odoardo mochte zwar auf dem Geldsäckel der Stadt hocken, aber allein entscheiden konnte er doch nicht. Und letztlich spielte es auch keine Rolle, dass seine Ermächtigung zur Anwerbung weiterer Truppen vorgestern in der Ratssitzung durch die Ereignisse gescheitert war, denn hier ging es nicht um Truppen, sondern nur um eine Person: nämlich seinen Stellvertreter.

„Das heißt, Du bleibst hier?“ Tanit blickte erwartungsvoll zu ihrem Vater auf.

Yastagir legte Tanit eine Hand auf die Schulter und nickte. „Beim Kodex, so sei es!“ Er hob die Hand; Corthin schlug ein, nach Söldnerart 1).

„Dann ist es abgemacht. Willkommen in Perricum, mein Sohn. Und willkommen in der Familie!“

1) so, wie man die Hände beim Armdrücken umfasst


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18. Bor 1037 BF zur abendlichen Hesindestunde
Die rechte Hand zur rechten Zeit
Die Schande liegt im Auge des Betrachters


Kapitel 43

In Dergelmund
Familienbegegnung


Kapitel 4

Exil
Autor: CD