Geschichten:Rabenfall - Rekrutierung
Darrenfurt, Efferd 1043 BF
Als stellvertretende Kommandantin der Stadtgarde hatte Mora verschiedene Aufgaben. In erster Linie alle Aufgaben übernehmen, die der Hauptmann nicht erledigen wollte; weil er seine feinen Hände nicht dreckig machen wollte. Als Sohn des Stadtrates war er schließlich was besseres. Wie Mora solche Leute verabscheute! Sie machte hier die eigentliche Arbeit, wühlte im Dreck und sorgte dafür, dass die Verbrecher geschnappt werden und gestehen. Aber der feine Pinkel kriegt den Lohn dafür! Mora haßte den Kommandanten! Es müßte nicht so sein, wenn das damals in Gareth funktioniert hätte ... dann, ja, dann hätte sie das Sagen. Gut, aber dann wäre sie auch nicht in dieser Grenzstadt zu Aranien gelandet, wo sie ein Niemand war. Und das haßte sie noch mehr.
Sie kam in die Stube und der Weibel, der hier seinen Dienst verrichtete, sprang auf und salutierte. Das mußte man dem Kommandanten zu Gute halten: er bestand auf Disziplin und entsprechenden Respekt gegenüber Höherrangigen.
"Hat der Gefangene sein Verbrechen zugegeben, Alrik?", fragte sie ihn.
"Noch nicht, Frau Leutnant", antwortete der Weibel.
"Dann werde ich ein wenig mit ihm ... reden", meinte Mora. Mit den richtigen 'Argumenten' hatte sie bisher jeden zum Gestehen gebracht. Dafür brauchte sie lediglich ein Eimer kaltes Wasser, ein dickes Sofftuch, ein paar Zangen und heiße Kohlen. Nach ihrem Verhör haben sie immer gestanden - und der Hauptmann bekam danach vom Stadtrat die Lorbeeren.
"Sehr wohl, Frau Leutnant. Ich werde das Werkzeug vorbereiten lassen", sagte der Weibel. "Aber Ihr wollt wahrscheinlich wissen, daß da jemand nach Euch gefragt hat, Frau Leutnant."
Mora hängte ihren Mantel an den Hacken. "Ach ja? Wer denn?"
"Das war so ein feiner Pinkel, Frau Leutnant, verzeiht den Ausdruck."
"Alles gut, Alrik. War er vom Stadtrat?"
"Nein, Frau Leutnant. Der war nicht von hier. Ich glaube, er kommt aus Gareth."
Moras Herz machte einen Aussetzer und hielt inne. "Aus Gareth sagst du? Verdammt, Alrik! Hat er gesagt, wer er ist?"
"Nein, Frau Leutnant. Er hat seinen Namen nicht genannt." Gerade fiel dem Weibel ein, daß er diesen, nicht gerade unwichtigen, Punkt vergessen hatte in Erfahrung zu bringen.
"Wie sah er aus?", fragte Mora beherrscht.
"Nunja, er war groß, eine Hand größer als ich. Er trat sehr selbstsicher auf. War wohl ein Adliger seiner Kleidung nach, trug auch ein Schwert und hatte einen Gehstock. Achja, und in seiner Kleidung waren magische Symbole eingestickt. War das ein Magier, Frau Leutnant? Ich dachte Magier haben immer lange Bärte und spitze Hüte. Und ich muß zugeben, Frau Leutnant, er war sehr überzeugend, er hat so eine gewisse Ausstrahlung, dem man sich kaum entziehen kann.
"Er ist es", sagte Mora, mehr zu sich selbst. "Scheiße. Was hast du ihm gesagt, Alrik?"
"Nichts, Frau Leutnant. Das schwöre ich! Jedenfalls meinte er, er ist zu Gast beim Baron und Ihr sollt ihn dort besuchen."
"Verstehe", sagte Mora und griff wieder nach ihrem Mantel. Glaubte er wirklich, sie sei so dumm?
"Aber wer ist er, Frau Leutnant? Und wo wollt Ihr hin?"
Mora antwortete nicht. Sie verließ die Stube.
Er hatte sie gefunden. Sie war bis ins letzte Eck des Reiches gereist, so weit von Gareth weg wie möglich, aber er hatte sie dennoch nach all den Jahren wieder gefunden!
Was wird er jetzt wohl machen? Vermutlich hat er bereits mit dem Stadtrat und dem Kommandanten gesprochen. Und wohl auch mit dem Baron. Und vermutlich wird er ihnen gesagt haben, was sie in Gareth gemacht hatte. Das war nicht gut.
Was sollte sie jetzt machen? Wieder abhauen und untertauchen? So wie damals? Nein! Sie hatte sich hier ein neues Leben aufgebaut. Und in ein paar Jahren würde sie die neue Kommandantin der Garde werden - so oder so. Sie würde nicht noch einmal wieder von vorne beginnen.
Sie fasste einen Plan. Angriff war die beste Verteidigung. Sie würde ihn tatsächlich aufsuchen und sich den Anschuldigungen entgegenstellen, die er zweifellos ausgesprochen hatte, und alles leugnen. Sie würde behaupten, daß er lügt und sie ihn nicht kennt und er nur ein Hochstapler sei. Und notfalls würde sie auf das Angebot eingehen, das ihr die Kastellanin Saleva gegeben hatte. Sie war eine kluge Frau und versiert in den politischen Künsten. Allerdings grauste sie davor, wenn sie darauf einginge. Ihre Bestrebungen wären um Jahre zurück geworfen, aber besser als alles zu verlieren.
Und vor allem, musste dieser Besucher ein für alle Mal verschwinden, - auf die eine oder andere Art. Und dafür würde sie Djimon aufsuchen.
Djimon war der hiesige Unterweltboss. Sie hatte mit ihm ein Abkommen geschlossen. Sie sah über die Verbrechen hinweg, die er tat und im Gegenzug hielt er seine Leute unter Kontrolle und hielt sie davon ab, den Mächtigen der Stadt in die Quere zu kommen. So waren alle zufrieden. Die Patrizier konnten ungestört ihr Geld weiter vermehren und Djimon konnte seine Geschäfte unbehelligt nachgehen.
Doch er schuldete ihr noch ein Gefallen. Und den beabsichtige sie jetzt einzufordern.
Der eher unauffällige Meister der Schreibstube Nandiran beobachtete von der Ballustrade aus die beiden Adligen im Saal und verglich die beiden. Sie waren beide recht ähnlich. Nicht nur in ihrer Größe, dem Gebaren und einem ähnlich edlen Kleidungsstil, sondern auch in ihrem Auftreten und ihrer Ausstrahlung. Das fand er seltsam faszinierend. Doch fielen ihm auch Unterschiede auf. Baron Thorondir hatte den typischen schelmischen Zug in den Mundwinkeln, während sein Gast aus Gareth keine Regungen zeigte und eher ernst wirkte. Nandiran wußte nicht warum, aber er hatte zwei Löwen vor Augen, die unter dem Vorwand des höflichen Geplänkels die Stärke des jeweils anderen einschätzten. Ihm gefiel das nicht, er war ohnehin eher von der hintergründigen Sorte. Und fragte er sich, was wohl die wahren Absichten des Gastes waren.
Angeblich war er nur in der nahen Stadt, weil er die Stellvertreterin der Stadtgarde treffen wollte. Der Schreiberling hatte erst überlegt, was er mit dieser verbissenen Frau zu tun hatte, bis er den Namen des fremden "Löwen" erfahren hatte. Diese Gardistin aus der Stadt hatte einmal behauptet Verwandte in Gareth zu haben, erinnerte sich Nandiran. Aber er wäre nie auf den Gedanken gekommen, daß das die garetische Adels-Familie hätte sein können, dafür war ihr Gebahren schlicht zu......ruppig.
"Ich empfinde es noch immer als seltsam, daß er ohne Begleitung erschienen ist. Nicht einen Gefolgsmann hat er dabei." Kastellanin Saleva gesellte sich neben Nandiran, setzte ihr ihren besten aristokratisch-überheblichen Blick auf und beäugte den Gast mißtrauisch. "Welcher Adlige reist bitte ohne Gefolge?", schnaubte sie. "Und dann noch ohne Vorankündigung oder zumindest etwas Tamtam!"
"Keine Sorge, beste Saleva.", sagte Nandiran. "Offenbar ist er ganz zufrieden mit seiner Unterkunft und dem Empfangskomitee."
"Wie meinst du? Ach, Nandiran, als würde darum gehen! Es geht um die rechte Vermittlung von Stand! Er würdigt einfach nicht den Stand, dem er angehört, wenn er sich nicht entsprechend benimmt!"
"Das liegt am Transversalis.", flüsterte bzw. murmelte es hinter ihnen. Nandiran blickte sich um. Es war hagere und eigensinnige Kämmerer Ardor, der "gesprochen" hatte. Er stand ein paar Schritt hinter ihnen im Kabinettssaal, blickte aber nicht auf und war stattdessen über ein Schriftstück mit verschiedenen Zahlen darauf gebeugt in das er absonderlich vertieft war, so als würde er gar nicht an der Situation teilnehmen. Ardor lief immer gebeugt herum, so daß er nur halb so groß wirkte, wie er eigentlich war. Und seine Hände waren immer irgendwie in Bewegung, sein Blick eigentlich nie auf andere Personen gerichtet, wenn er dich denn mal mit solchen umgab. Wenn er denn mal sprach gestikulierte er so dermaßen verlangsamt, daß das schon irritierend und ablenkend war. Und seine Körperhaltung machte einen dümmlichen oder feigen Eindruck, aber er war alles andere als Dumm. Im gegenteil, er konnte mit Zahlen umgehen, wie kein anderer. Wo andere Mathematiker ihre Rechenmaschinen benutzten, kam er in wenigen Augenblicken nur mit Nachdenken auf die richtige Lösung. Bei Zahlen machte ihm keiner etwas vor, sie gehörtem quasi ihm.
"Wie meinen?", rümpfte Saleva etwas die Nase.
"Na, das liegt am Transversalis", wiederholte Ardor wieder murmelnd und immer noch nicht aufblickend.
"Und was soll das sein?"
"Ein Zauber natürlich.", verdrehte Ardor die Augen, wie er es immer tat, wenn jemand ihm eine vermeintlich überflüssige Frage stellte. So natürlich empfand das Nandiran allerdings nicht. Und ein Seitenblick auf Saleva sagte ihm, daß auch sie das so sah, auch wenn beide evtl. eine Ahnung hatten. Der Baron unterhielt zwar gute Kontakte zu der Zunft der Magier, und so war es nicht verwunderlich, dass Magier am Hofe angesehen waren und zum Teil ein und aus gingen; was dann auch zur Folge hatte, daß man am Hofe mehr über Magier wußte als anderenorts. Aber auch sie erfuhren nicht wirklich, welche Zauber die Magier beherrschten. In diesem Punkt waren die Magier alle gleich, auch wenn sie sonst ihre Meinung gerne vertraten und diese freizügig kund taten, so waren sie äußerst sparsam im Hinblick auf die Natur ihrer Zauber.
"Warum er alleine hier ist", fuhr Ardor fort, dabei stumm nebenher rechnend. "Das ist ein Zauber, der einen von einem Ort zu einem anderen teleportiert. Da kann man niemanden mitnehmen. Geht nur alleine. Wahrscheinlich war er heute morgen noch in Gareth."
"Wie auch immer", wandte sich Saleva wieder den beiden "Löwen" zu. "Das ist der nächste, vielleicht sogar gravierenste Punkt: Daß er ein Schwert bei sich trägt, sei ja noch akzeptiert, schließlich hat er sich als Schwert-und-Stabler ausgewiesen, aber sein Magierstab ... auf dem ersten Blick wirkt es eher wie ein Gehstock und auch die magischen Symbole am Saum sind zu dezent und können leicht übersehen werden. Ist es nicht die Pflicht eines Magiers als solcher auch erkannt zu werden? Und habt ihr gesehen, wo er sein Magiersiegel hat? In der linken Hand! Links! Nein, ich traue diesem Magier nicht!"
"Ein Punkt für Euch, gute Saleva", stimmte Nandiran zu. "Aber was das Siegel betrifft habe ich wahrscheinlich eine Antwort für Euch. Bei seiner Ankunft fiel mir das ebenfalls auf und, nunja, ich habe ihn darauf angesprochen. Ursprünglich hatte er das Siegel in der rechten, allerdings wurde es bis zur Unkenntlichkeit verbrannt. Durch Feuerzauber nehme ich an. Und ich habe von der Baronin gehört, daß er kurz nach Erhalt von Stab und Siegel in der Dämonenschlacht gekämpft haben soll." Auch Nadiran blickte wieder hinunter. "Ein gefährliches Geschäft, diese Kampfmagie." In diesem Augenblick kam ein Page in den Saal, gefolgt von der Gardistin, nach der der fremde Löwe holen ließ.
Mora folgte dem Pagen in einen großen Saal. Dort sah sie ihn sogleich in der Mitte stehen. Neben ihm stand der Baron. Sie blickten beide auf, als sie den Saal betrat. "Dann will ich Euch mal alleine lassen," hörte sie den Baron zu ihm sprechen. "Ich erwarte Euch dann heute Abend." Der Baron musterte sie noch kurz und verließ mit einem Ansatz des Schmunzelns in den Mundwinkeln den Saal.
Als sie ihn erreichten, stellte der Page sie vor. "Euer Wohlgeboren, die stellvertretende Kommandantin der Stadtgarde, Mora Keres" sagte er. "Frau Leutnant, Ihr steht vor seine Wohlgeboren Gerion von Keres, Oberhaupt des Hauses Keres, Junker von Hohenlinden, Herr der Ash'Tragor und Magus der Weißen Magiergilde." Der Page blickte zwischen beiden hin und her.
"Danke, du kannst gehen", sagte Gerion zum Pagen und dieser kam der Aufforderung sogleich nach.
Wenn er sie hätte festnehmen wollen, dann hätte man sie nicht allein gelassen, fiel Mora auf. Offenbar wollte er mit ihr unter vier Augen reden. Es sollte also nicht jeder erfahren, was sie zu bereden hatten. Aber sie waren nicht unbeobachtet: auf der Ballustrade waren einige Höflinge zu sehen, die neugierig hinunter blickten. Sie fragten sich zweifellos, was er von ihr wollte.
Dann registrierte sie was der Page gesagt hatte. Oberhaupt des Hauses Keres? Dann war er jetzt das Oberhaupt? In ihrem Hals bildete sich ein Kloß.
Sie blieb vor ihm stehen. Er zeigte keine Regung. Er sah sie einfach nur musternd an. Sie wiederstand dem Drang, den Blick abzuwenden und sah ihm in die Augen. Aber sie mußte den Kloß in ihrem Hals hinunter schlucken.
"Ich nehme an, du fragst dich weshalb ich hier bin", sprach Gerion schließlich.
"Wegen dem Knecht, der damals zu Tode kam?", antwortete sie. "Ich versichere dir, es war ein Unfall!"
Gerions Augen verengten sich, sein Tonfall blieb aber neutral. "Ich habe ein Angebot für Euch, Mora", sagte er. "Ihr tretet in meine Dienste und schwört einen Lehenseid. Im Gegenzug erkenne ich Euch als Bastardkind meines Vaters und damit als meine Halbschwester an. Und es besteht für Euch die Aussicht in den nächsten Monaten Titel und Land zu erringen, wenn Ihr Euch bewährt."
Das hatte sie nicht erwartet. Ihr Mund öffnete und schloß sich wieder. Er wollte sie anerkennen. Er wollte sie tatsächlich anerkennen! Ihr Traum wurde wahr! Jetzt würde sie endlich eine echte Adlige werden! Sie bemerkte seinen Blick und sie fasste sich wieder. Sie atmete einmal tief durch. "Wo ist der Haken? Warum wollt Ihr mich so plötzlich anerkennen?"
"Die Alternative ist folgende", fuhr Gerion fort. "Ich klage Euch des Mordes und der Hochstapelei an. Ich habe mit meinem Vater gesprochen und er sagte, daß er keine Vanessa im fraglichen Zeitraum kenne, von der Ihr behauptet, daß sie Eure Mutter sei."
Moras Herz sackte in die Hose. "Aber ... aber das kann nicht sein", stammelte sie und in ihrem Kopf schoßen etliche Gedanken durch den Kopf. Ihre Mutter hat ihr doch gesagt, Balrik von Keres wäre ihr Vater. Hat sie gelogen? Warum? Vielleicht ist das aber nur eine Lüge von Gerion? Ihrem Bruder! War er wirklich ihr Bruder? Sie war sich immer so sicher gewesen. Warum war er jetzt das Oberhaupt? Warum wollte er sie jetzt in die Familie aufnehmen? Sie mußte das Angebot annehmen. Jeder wußte, daß sie sich als Keres vorgestellt hatte. Es würde kein Zweifel geben, daß sie sich der Hochstapelei strafbar gemacht hätte. Allerdings ... war das alles belanglos! Er würde sie in die Familie aufnehmen! Sie wäre dann eine Keres. Das war alles was sie sich je gewünscht hatte! Und was hat er gesagt? Aussicht auf Titel und Land? Man bekam im Regelfall nur dann neues Land, wenn man dieses auf einem Feldzug eroberte. Dafür brauchte er sie also.
Moras Blick wurde fester. Sie hatte sich entschlossen. "Gegen wen kämpfen wir?, fragte sie.
"Clever", lächelte Gerion.
Das nächste was die Adligen auf der Ballustrade beobachteten war, wie die stellvertretende Kommandantin der Garde sich vor Gerion hinkniete und ihren Eid schwor.
Und schon am nächsten Morgen strafte der Magier Ardors Worte Lügen, als er zusammen mit Mora mittels des Zaubers Transversalis zurück nach Gareth reiste.