Geschichten:Recht oder Gerechtigkeit - Das Feuer der Gerechtigkeit

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Nun endlich ist es soweit, dass die Geschehnisse in Greifenfurt, wo eine Geweihte des Götterfürsten selbst das Volk zum Aufruhr aufzustacheln schien, ihren Abschluss erreicht haben. Ruhe liegt wieder über Beldenhag, Ruhe und der Wunsch nach Vergessen. Längst wurden die wirr aufeinander getürmten, kohlschwarzen Äste, die auf dem Beldenhager Dorfplatz Zeugen eines unbegreiflichen Schauspiels geworden waren, beiseite geräumt, das letzte Aschehäufchen von einem Besenstrich oder der sorglosen Rahjabrise beiseite gefegt – und immer häufiger hört man die Beldenhager verzagt murmeln, dass mit dem neuen Herrn Baron, einem Tobrischen, vielleicht alles anders und besser werden würde.

Doch will sich die Schreiberin dieses Artikels nunmehr auf ihr Handwerk besinnen und die Geschichte, wie sie sich zugetragen hat, von Anfang bis Ende erzählen. Von den Unruhen in der Baronie Beldenhag hatten wir berichtet: von den tobrischen Leinewebern, die den Unmut des örtlichen Barons auf sich gezogen hatten, von den harten Strafen, mit denen ihr Ungehorsam geahndet worden war, und von der wachsenden Verbitterung des einfachen Volkes – eine Verbitterung, die vielleicht nicht ganz so schnell gediehen wäre, hätte ihr nicht Praiota Lechmin Lucina von Hartsteen daselbst die Stimme geliehen, deren geschmeidigen Worten zufolge nur der gerechte Herr das Letzte von seinen Untergebenen fordern dürfe, wohingegen sich der Ungerechte, Haltlose an Praios selbst versündige.

Für zweimal zehn Jahre, so war der barönliche Befehl ergangen, hatten die tobrischen Exilanten feinste Tuche im Übermaß zum Zehnt zu geben, und nach anfänglichem Murren (dem die Strafe, der Bote berichtete, auf dem Fu8 gefolgt war) sah es ganz danach aus, als wollten sie ihren Pflichten um jeden Preis nachkommen. Wann immer der Vogt, der dieser Tage oftmals wie zufällig sein Ross an den bruchfälligen Katen der Tobrier vorbei lenkte, das laute Klappern der Webstühle vernahm und das geschäftige Schweigen ihrer Bewohner, glättete ein zufriedenes Lächeln seine Züge, und er setzte sich mit dem wohltuenden dem letzen Sichaufraffen eines ganz und gar Verausgabten glich. Doch Jost Koschborn war noch nie ein Freund dunkler Vorahnungen gewesen. Selbstgefällig nahm er den Fleiß seiner Mündel zur Kenntnis, und trug mit der festen Gewissheit eines stolzen Vaters die neueste Aufgabe des Herrn Baron an sie heran, der sie sich zweifelsohne für würdig erweisen würden: Nun, da die Hochzeit Ihrer Wohlgeborenen Prinzessin vor der Tür stand, würde mehr an Milch, Eiern und Mehl erhoben, an Stoffen solle der Tribut gar gedoppelt werden – eine Nachricht, die die tobrischen Tucher wie versteinert dastehen ließ, ehe sie sich schwerfällig wie Greise abwandten und stumm zu ihren Hütten zurückschlurften. Der Tag der Hochzeit rückte näher, und die Vorbereitungen waren in vollem Gange.

Um die Tobrier war es so still geworden. als seien sie nie da gewesen. und auch die Dame von Hartsteen war fort gereist. Angeblich habe der Geheime Inquisitionsrat Armando Laconda da Vania sie zu sich nach Greifenfurt zitiert, wo er dieser Tage residierte. um die Ankunft seines Herrn, des Wahrers der Ordnung Mittellande. vorzubereiten. Als letzte Tat vor ihrer Abreise war sie noch einmal bei den Katen der Tucher vorbeigegangen. Wie ein vorwitziger Knabe belauscht haben wollte, habe sie keine der sonst üblichen, hitzigen Predigten an die Tobrier gerichtet, sondern sanft und warm zu ihnen gesprochen. Geduldig habe sie sich ihre Nöte angehört und nach langem Schweigen mit Flüsterstimme ihren Ratschlag erteilt. Dann sei sie mit wehendem Mantel auf der Kutsche davon gebraust.

Am 14. Ingerimm schließlich war es so weit. Vier hochwandige Holzkarren im Geleit, neben deren Kutschbock das barönliche Banner flatterte, zog der Zehntvogt ins Dorf.

Gehorsam wünschten die sichtlich erschöpften Beldenhager dem Brautpaar Travias Segen, luden säckeweise die geforderten Gaben auf. Zu guter Letzt rumpelte der Zug, dem allerlei schaulustiges Volk hinterdrein zog, bei den Tobriern vorbei. Mit gesenkten Köpfen wurden auch dort Ballen um Ballen aufgeladen, feinste Ware, deren makellose Webart dem Prinzgemahl aus dem Lieblichen Feld wohl gefallen würde. Als der letzte Ballen aufgeladen war, trat bleierne Stille ein. und Jost Koschborn sog scharf die Luft ein. »Was soll das heißen – ein Viertel zu wenig?«, brachte er ungläuhig hervor. Moribert Ghune, der Sprecher der Tobrier, trat einen Schritt vor. Erst stockend, dann mit klarer Stimme und den Blick fest auf den Vogt geheftet, gab er seine Erklärung ab, so unglaublich sie auch war: Man habe es nach reiflicher Prüfung für unmöglich befunden, das Geforderte zu leisten, und habe sich darum etwas ausgedacht, das den Brautleuten einen noch viel größeren Dienst erweisen würde als alles Webgespinst: Die Ehrfurcht vor dem Herre Praios selbst wolle man ihnen auf den Weg geben, denn die allein sichere ihnen das Wohlwollen des Höchsten. Nach einer bedeutungsvollen Pause setzte sein Weib, das wie ein Schatten an seiner Seite stand, die Rede fort: Darum habe man zwar nur Dreiviertel der Tuche geliefert, jene aber besonders fein gesponnen, nach den alten Künsten der Heimat, und zum Zeichen seiner Segenswünsche habe man alle zweieinhalb Spann ein hauchfeines Sonnensymbol eingearbeitet. Jenes Zeichen – Moribert hielt dem erbleichten Vogt stolz wie ein tulamidischer Tuchhändler das nämliche Ornament unter die Nase – solle das Brautpaar an seine Pflichten erinnern, gegenüber dem Götterfürsten ebenso wie seinen Schutzbefohlenen, auf dass seine Regentschaft in alle Zeiten blühe und reiche Früchte tragen würde. So kam es, dass schon am nächsten Tag die Hinrichtung Moribert Ghunes und seiner Gattin befohlen wurde.

Als Baron Gero sich zur Richtstätte, einem Scheiterhaufen auf dem Beldenhager Dorfplatz, begab, war ihm sein Ärger anzusehen. In finstere Gedanken versunken, fürchtete er doch ganz zu Recht, dass der Glanz des anstehenden Familienfestes von den unschönen Vorfällen gemindert würde, starrte er auf den Holzstapel, auf dem soeben Moribert Ghune angebunden wurde. Wen immer seine Füße bis Beldenhag tragen konnten, der schien anwesend zu sein: eine riesige Menschenmasse, die sich auf dem engen Dorfplatz drängte. Kinder plärrten, Hunde kläfften, und hätten die Anwesenden nicht derart eisige Mienen zur Schau getragen, man hätte sich an ein Volksfest erinnert gefühlt. Manche der Zuschauer – überraschend viele eigentlich – machten den Anschein, als seien sie geradewegs von der Feldarbeit herbeigeeilt. Dreschflegel, Sensen oder Mistgabeln hielten sie wie geistesabwesend umklammert, während sie mit blitzenden Augen das Geschehen betrachteten. Nur die Dame von Hartsteen schien noch immer nicht zurückgekehrt zu sein, und so mussten die Worte, die Moriberts derisches Dasein besiegeln sollten, von der örtlichen Peraine-Geweihten gesprochen werden. Das ältliche Mütterchen setzte alles daran, die unangenehme Pflicht so schnell wie möglich hinter sich zu bringen; hastig verlas es einen kurzen Text, demzufolge das fleischliche Leben wohl geopfert werden könne, wenn nur die unsterbliche Seele gerettet werde, sprach noch ein knappes Praiosgebet und zog sich rasch in den Schutz der Menge zurück.

Nun also war alles bereitet. Bleich und erhaben stand Moribert da, ebenso wächsern und stolz seine Frau. Der Herr Baron richtete mahnende Worte an die Anwesenden, sprach von der Pflicht seiner Mündel, sich fortan eines Besseren zu besinnen. Jeder einzelne von ihnen könne dazu beitragen. fuhr er mit einem Blick in die Runde fort, dass der Tod der Ghunes nicht vergebens gewesen wäre – durch den festen Willen, das von ihm geforderte Maß an Arbeit nicht nur zu erfüllen, sondern noch um ein Vielfaches zu übertreffen. Er selbst jedenfalls sei voller Zuversicht. Bald schon werde man die prächtigste Hochzeit feiern, die die Baronie, ach was, die ganze Grafschaft je erlebt hatte. Drei-, nein. viermal so viel Bier und Braten wie sonst bei derlei Anlässen üblich werde er unter seinen lieben Untertanen verteilen. und nun wolle man rasch für die Verurteilten beten und dem Herrn Praios für die Gnade danken, mit der ihre Seelen nun doch noch von allen Verfehlungen reingewaschen worden wären. Baron Gero brach ab. Er trat zurück. hieß seine Fackelträger mit einem Wink an die Arbeit. Da allmählich ruckten ringsumher die Köpfe der Zuschauer hoch. Irgend etwas lief schief, etwas, mit dem jedermann gerechnet hatte, schien einfach nicht stattzufinden zu wollen – und diese Erkenntnis ließ die Unruhe sprunghaft ansteigen. Während ringsumher die Leute rumorten, aneinander drängten und wieder mit den Ellenbogen Platz schufen und dabei die Sensen und Gabeln zu wogen begannen, nahm das plötzlich Unabwendbare, an das dennoch bis eben noch niemand geglaubt hatte, seinen Lauf. Die Fackelträger traten nah an den Holzstapel heran, schwenkten in theatralischer Geste die brennenden Stäbe, während rings umher wildes Gebrüll aufsprang ...

Wie ein Wirbelsturm fuhr da eine Kutsche in den Kreis, brach sich rücksichtslos ihren Weg durch die Menge und kam in einer Staubwolke zum Stehen. Praiota von Hartsteen, mit hochrotem Gesicht, sprang vom Bock und war mit zwei langen Sätzen an der Seite des Barons angelangt. »Darf man erfahren, was hier los ist?«, brachte sie mit schriller Stimme hervor. Damit schien der verdutzte Adlige ebenso gemeint zu sein wie die in der Bewegung erstarrten Fackelträger und dir Bauern. die zu einem erstickend engen Kreis zusammengedrängt waren und mit wutverzerrten Gesichtern ihre Waffen umklammerten. »Sie wollen den Moribert und seine Frau anzünden ... wo sie doch nichts Schlimmes getan haben!«, schrillte ein Weib aus den Reihen der Tobrier los. »Niemand wird sie anzünden. so wahr uns Praios helfe!« – »Genau, Recht bleibt Recht, da kann auch kein Adelspfott was dran ändern!« – »Brennt sie doch selbst nieder, das Lumpenpack! Dann geht’s uns endlich besser!«, grölte es ringsumher wild durcheinander. Sicheln wurden geschwenkt, blinkende Zinken wankten unschlüssig in der Luft.

Schließlich trat Ruhe ein, eine unheimliche Ruhe, in der die Gewissheit lag, dass gleich Blut fließen würde. Die Geweihte trat vor, dicht an den schäumenden Pöbel heran. Ihr kühler Blick glitt über die Versammelten, suchte die weite Ferne des Abendrots. »Und was meint ihr, was nun zu tun wäre?«, gestattete sie sich mit unbeteiligter Stimme zu fragen. Nur ein blonder, schmächtiger Jüngling wagte ihr zu antworten. »Man könnte ... für Gerechtigkeit sorgen«, sprach er heiser, bittend. »Das habt Ihr selbst uns doch gesagt, Ihro Gnaden. Dass man vor allem dem Herrn der Gerechtigkeit huldigen muss. Und wenn es doch so offenkundig unrecht ist, was da geschieht, wie mit dem Ghune ...« Er brach ab, rang stumm mit den Händen.

»So, so. Offenkundig ...« Lechmin Lucina ließ lange einen nachdenklichen Blick auf ihm ruhen. »Da maßt euresgleichen sich also an, über Recht und Unrecht zu entscheiden ... Wie erklärt man es sich dann, frage ich euch, dass Praios selbst euch einen Herrn gegeben hat, der euch leiten möge und dem ihr zu folgen habt? Soll Er, der Höchste, sich etwa ... geirrt haben?« Die letzte Worte spie sie geradezu hervor, so wütend war sie geworden. Und wieder wurde das Volk von Beldenhag Zeuge einer ihrer flammenden Reden, wie schon so oft zuvor. Die Dame von Hartsteen sprach von der göttlichen Gerechtigkeit, der höchsten Ordnung, nach der unsere Welt geformt ist. Dem einen oder anderen kamen gar ganze Passagen ihrer Rede bekannt vor, als habe sie genau so schon einmal zu ihnen gesprochen: »Und ich frage euch: Wäre es nicht die heiligste Pflicht eines jeden, jetzt und heute auf dem Platz zu verharren, den Praios ihm zugewiesen?«

Nur der Sinn des Gesagten hatte sich auf bestürzende Weise ins Gegenteil verkehrt. Statt Zorn oder auch nur Mut säte sie Ratlosigkeit, Bestürzung, tiefe Scham. Die Beldenhager schwiegen, ließen mit hängenden Köpfen und zitternden, schwieligen Händen die makellose Schönheit der heiligen Worte an sich vorüberziehen. Nach langer, langer Zeit schloss Ihro Gnaden mit den Worten: »Und darum ist es Frevel, so sage ich euch, wenn der Mensch nach eigenem Gutdünken zu richten versucht. Des Herrn ist die Gerechtigkeit, der Fürst von Alveran selbst wacht darüber, was Recht ist und was Unrecht. Und der Frevler wird gestraft werden, der Ketzer von der Flamme der göttlichen Ordnung gereinigt. So war es seit Anbeginn der Zeit, und so wird es sein bis in Ewigkeit.«

Was dann geschah, bekamen auch die meisten der Anwesenden nicht mit eigenen Augen mit (obwohl so mancher sich damit brüsten sollte, damals dabei gewesen zu sein). Zu schnell reihten sich die Ereignisse aneinander, zu sehr waren die Menschen damit beschäftigt, sich im plötzlich ausbrechenden Durcheinander der Fliehenden, Schreienden auf den Füßen zu halten und Freunde und Kinder mit sich fort zu reißen. Was sich jedoch in Wahrheit ereignete, war folgendes: Kaum waren die letzten Worte der Praiota verklungen, da traten die Fackelträger an den Scheiterhaufen heran. Wie Stroh loderte das Geäst auf, und im gleichen Atemzug, so als würde das Feuer zurückgeworfen, schlugen zwei armlange Flammen wieder heraus und leckten wie gleißende Zungen nach dem Arm des Barons, der gleichfalls wie gebannt der Rede gelauscht hatte und offenbar viel zu dicht an dem Holzstapel stand. Auch jetzt noch, da schon sein ganzer Ärmel Feuer gefangen hatte, wollte es ihm nicht gelingen, sich in Bewegung zu setzen. Nur die wenigsten, kaltblütigsten Zuschauer sahen noch mit an, wie die ganze hochaufragende Gestalt allmählich, immer noch wie gelähmt dastehend, in ein wild züngelndes, sonnenhelles Kleid gehüllt wurde. Dann warfen auch sie sich herum und rannten um ihr Leben. Keiner hörte mehr die Worte die Praiota von Hartsteen, die sie mit tonloser Stimme hinter der Fliehenden her sprach: »Gehet hin und besinnt euch eurer Pflichten. Und was eure Zukunft betrifft, so bete ich für euch. Auch wenn man mich für mein Handeln und Reden gema8regelt hat, das Beten kann mir niemand verbieten.«


Aventurischer Bote Nr. 82

Mit freundlicher Genehmigung von Britta N.