Geschichten:Rubinsplitter – Vielgestaltige Brut

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Vielgestaltige Brut

In der nördlichen Kaisermark, Frühjahr 1039 BF

Orrik hatte sich gewandelt. Seit den Tagen, als er sich bei Ancilla erstmals in den Drachen verwandelt hatte, war er ein anderer geworden. Seither hatte er es immer wieder versucht und hatte wie besessen die Verwandlung in allerlei Echsenwesen geübt, doch die Form des Meckerdrachems war seine liebste.

Yelwyn betrachtete es mit Sorge. Yasia, seine Schwester, nahm Orriks Veränderung auf die leichte Schulter; genaugenommen kümmerte es sie überhaupt nicht. Als er sie auf die Veränderung des Druiden angesprochen hatte, hatte sie nur gelacht und abgewunken. Sie hatte es nicht wahrhaben wollen.

Seufzend setzte er sich nieder, den Stab quer über die im Schneidersitz gekreuzten Beine legend. Magie war eine Sache – man könnte sie erlernen, beherrschen und benutzen. Andere Mächte hingegen – sie neigten dazu, Besitz zu ergreifen und nicht mehr Herr des eigenen Willens zu sein, zumindest nicht vollends; im schlimmsten Fall sogar bis zum Verlust des eigenen selbst. Vielleicht traf dies auf die Diener der Götter nicht ganz so zu – deren gegensätzliche Entitäten hingegen strebten nach den Seelen der Sterblichen.

Jetzt aber musste er mit den Dingen leben, die er selbst angestoßen und damit zu verantworten hatte. Er hatte Yasia die Wege zu den verbotenen Pforten gelehrt, wie er selbst die Kunst des Meisters von seinem Mentor Zachan gelernt hatte. Es war die einzige Chance gewesen, Yasia das Gefühl zu geben, etwas besonderes zu sein; ohne den Funken der Magie geboren blieben ihr nur die Lehren Borbarads, um Magie zu wirken.

Bei Orrik hatte es andere Gründe gegeben; er verfügte bereits über die magische Gabe, als sie ihn kennengelernt hatten. Der Austausch von Wissen war in der Bruderschaft an der Tagesordnung gewesen, um sich auf die Große Aufgabe vorzubereiten.

Die große Aufgabe... Yelwyn wusste immer noch nicht, was er davon halten sollte. Zachen jedenfalls hatte wenig bewirkt; zumindest nicht spürbar, und war letztlich gleich zweimal gescheitert. Yasia und Orrik hingegen glaubten noch immer daran, dass ihr Dasein und alles, was sie in den letzten Jahren durchmachen mussten, nur einem noch unbestimmten höheren Ziel dienten.

Er hob den Blick. Yasia lag am niederbrennenden Feuer und schlief; der Druide hingegen schien zu meditieren. Die wenigen Streiter, die immer noch zu ihnen hielten, scherte der Plan wenig; abgehalfterte Söldlinge waren sie, die sich durch Raubzüge und Überfälle auf Händler bei Laune und mit der Beute die ganze Gruppe am Leben hielten.

Ein dumpfer, grunzender Laut riss ihn aus den Gedanken. Der Druide hatte ihn ausgestoßen; er wandte er sich wie in Krämpfen in den Schatten, die das Feuer warf. Immer lauter wurden die Schreie, zuckender der bizarre Tanz. Schließlich verstummte Orrik, dann richtete sich auf. Er wirkte noch buckliger, als er es in den letzten Wochen erschienen war - auch dass eine Wandlung, die Yelwyn nicht entgangen war - und seine Haut wirkte plötzlich ledrig, irgendwie schuppig. Die Kleidung aus einfachem Linnen riss mit einem Male auf, und durch die entstandenen Risse im Gewebe entfalten sich aus den Schulterblättern zwei etwa armlange Schwingen.

Orrik – oder das Wesen, dass nur noch wenig Ähnlichkeit mit dem Orrik hatte, den er kannte – stapfte auf ihn zu. Ein kaltes, echsenhaftesGrinsen umspielte die nur noch entfernt menschlichen Gesichtszüge des Druiden. »Wieder einen Ssschritt weiter«, sagte er zischelnd.

Yelwyn schüttelte sich innerlich. Er wusste, was es bedeutete; sein Wissen über den Paktschluss mit den Erzdämonen war ausreichend genug, um zu verstehen, was Orrik trieb: in seinem Wahn nach drachischem Dasein hat er sich der Vielgestaltigen angebiedert und seine Seele verkauft, und das wohl nicht zum ersten Mal.

»Die Herrin hat Dich erhört«, säuselte eine wohlklingende Stimme hinter Yelwyn, ähnlich der seiner Schwester. Er holte tief Luft, bevor er sich schließlich umwandte - und erschrak. Mit katzenhaftem Gang schlenderte sie auf ihn zu, das Gesicht frei von den Narben, schön und makellos, so wie sich sich selbst immer hatte sehen wolle, mit vollen Brüsten, langen Beinen und noch schlankerer Taille; ihre eher knabenhafte Figur war verschwunden.

»Die Herrin hat nach uns verlangt – hast Du ihren Ruf nicht vernommen?«Sie streckte ihm die Hand entgegen, mit langen, krallenartig gebogenen Nägeln.

»Er wird noch verssstwhen«, zischte Orrik, und der heiße Atem kam Yelwyn vor wie der Odem eines Drachen, es fehlte nur der Flammenstoß.

»Ja, er wird«, schnurrte Yasia, »eines Tages wird er verstehen und dem Ruf folgen.«

Yelwyn wurde schwarz vor Augen. Das letzte, was er sah, bevor er das Bewusstsein verlor, waren die gelb glitzernden Katzenaugen seiner Schwester, die ihn siegessicher niederstarrten.



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1039 BF zur nächtlichen Ingerimmstunde
Vielgestaltige Brut
Funkenflug


Kapitel 3

Sternenpfad


Kapitel 13

Dschinnenflug
Autor: CD