Geschichten:Schäumende Wasser - Die Konsequenzen des alten Seebären
Auditorium der Kaiserlich Perricumer Flottenakademie, 4. Efferd 1043 BF
Mit hinkenden Schritten näherte sich Sebald von Gerben der zweckmäßig gestalteten doppelflügeligen Tür zum großen Lehrsaal der Flottenakademie. Gerade wollte er die beiden Messingklinken ergreifen, um die geräumige Halle zu betreten, als er innehielt.
Von innen hörte er durch die Türen bereits gedämpftes, dennoch aufgebrachtes Gemurmel. Das letzte Mal, als er hier war, stand er ähnlich vor den verschlossenen Türen, um sich zu sammeln. Es war vor nicht allzu langer Zeit ein freudiger Anlass gewesen, weswegen er damals zu den Schülern sprechen wollte. Er hatte sich die freudigen Gesichter ausgemalt, als er vor einigen Tagen vor diesen Türen stand. Hatte sich das unterdrückte Jauchzen vorgestellt, mit welchem die Jungen und Mädchen auf seine Nachricht reagieren würden, dass es eine neue praktische Ergänzung des Lehrplans geben würde, eine Bewährungsprobe auf dem Darpat, eine ernstzunehmende Aufgabe für jeden Kadetten.
Es galt, den ausgebauten Flottenstützpunkt in Wasserburg ab diesem Jahr beginnend mit lernfähigen werdenden Offizierinnen zu verstärken, um gegen die schändlichen Machenschaften der Schmuggler vorzugehen, die am oberen Darpat ihr Unwesen trieben. Und die Flottenakademie gedachte, der Sonderflottille Flusswacht in diesem Vorhaben ihre Unterstützung zuzusagen. Für die jungen, voller Tatendrang steckenden Kadetten mit Sicherheit eine willkommene Abwechslung zwischen all der staubigen Theorie über das Benennen von Flottenverbänden, Taktiken, Kniffen und nautischen Kommandos, die es unweigerlich zu lernen galt. Eine Bewährungsprobe ganz abseits der sterilen, einstudierten Übungsmanöver. Das Umsetzen der erlernten Theorie in die harte Praxis des Alltags.
Ein Exerzitium abseits des Bewährten.
So jedenfalls hatte es Sebald im Lehrplan vor dem ausbildenden Personal begründet. Dass es notwendig sei, dem neuen Kurs der Flottenausbildung folgend auch die Flussschiffahrt in den eigens von Sebald reformierten Ausbildungsplan der Kadetten zu integrieren. Und das Lehrpersonal war trotz einiger Bedenken mit dem Anliegen Sebalds einverstanden der Sonderflottille für den Ausbau auch ein wenig Geld zukommen zu lassen. Schließlich waren viele Neuerungen im Ablauf der Flottenakademie zu Perricum auf Sebald zurückzuführen. Und nichts davon bisher zum Nachteil.
Wie sehr er sich täuschen sollte, wurde Sebald erst jetzt gewahr, als er unschlüssig vor den beiden Messingklinken stand. War es wirklich notwendig gewesen, die jungen, unerfahrenen Kadetten so häufig wie im Lehrplan vorgesehen in den harten Alltag eines Seesoldaten zu entlassen? Oder waren all diese Argumente, die er gegenüber dem Collegium vorgebracht hatte nur Verschleierungen?
Ablenkungen davon, dass der wahre Zweck dieser Kooperation lediglich darin bestand, seine Nichte in ihrem politischen Kampf gegen irgendwelche Widersacher zu unterstützen, die Sebald nur flüchtig kannte, geschweige denn, dass sie ihm und seinem Wirken innerhalb der Flottenakademie schaden wollten? Hatte er private Sympathien gegenüber seiner aufstrebenden Nichte über seine Verantwortung als Leiter der Flottenakademie gestellt?
Sebald atmete tief durch. Sein steifes Bein schmerzte. Doch leider konnte dieser körperliche Schmerz nicht den seiner Seele aufwiegen, der ihn seit Tagen quälte. Dass er es war, der dafür gesorgt hatte, dass 8 seiner Schützlinge niemals wieder hinter die schweren doppelflügeligen Türen zurückkehren würden. Dass sie niemals mehr mit ihren Kameraden innerhalb der Flottenakademie lernen, lachen, und schwitzen würden. Dass er es war, der diese 8 unglücklichen Seelen für immer in ihr nasses Grab geschickt hatte. Dass der Darpat sie für immer auf ungeklärte Weise verschlungen hatte. Und nun musste er dies den Eltern beibringen, die hinter den Holztüren warteten. Die voller Trauer und Wut auf den Holzbänken saßen, auf welchen vor einigen Wochen noch ihre Sprösslinge Platz genommen hatten.
Sebald strich sich den buschigen Oberlippenbart glatt, straffte sich und stieß die beiden Torflügel auf…
Die Gespräche innerhalb des Lehrsaals erstarben und alle Augenpaare richteten sich auf Sebald. Kurioserweise musste der alte Seebär dabei kurzzeitig an einen Kauka denken, einen gefürchteten Tropensturm im südlichen Perlenmeer, der sich auch dadurch auszeichnete, dass eine kurze, windstille Periode davon kündet, wie hart im nächsten Moment der Sturm zuschlägt. Und auch hier war es nicht anders. Als Sebalds Gehstock auf den Holzdielen erklang, kam Bewegung in die Gesellschaft. Und einem Kauka gleich schlugen ihm Anschuldigungen, Drohungen, Wehklagen und Zornesrufe entgegen. Sebald ließ sich zunächst nicht davon beirren und humpelte gemessenen Schrittes auf seinen Gehstock gestützt dem Rednerpodium entgegen.
Er legte beide Hände um die abgegriffenen Holzleisten des Pultes und blickte gemessen in die Runde.
Da war Herdan von Rauleu, genau vor ihm, eine der einflussreicheren Familien, die zu den Gönnern der Flottenakademie gehörten und die tief in der Perlenmeerflotte verankert waren.
Sie hatten ihren Sohn (Bredogar) verloren.
Weiter hinten an der Butzenglasfensterfront standen Vertreter der Familie Falswegen, Leiter der Reederei Falswegen und ebenfalls finanzielle Unterstützer der Flottenakademie.
Ihre jüngste Tochter, Rhabdane Falswegen, gehörte ebenfalls zu den Opfern am Darpat. Die Doriane Falswegen hatte die Ausbildungskosten ihrer Tochter bereits im Voraus komplett abbezahlt. Eine erhebliche Summe, die Sebald ihnen jetzt schuldig war.
Mit verschränkten Armen musterten sie Sebald misstrauisch. Auch eine Hesinde-Geweihte aus dem Hesinde-Hort zu Perricum beobachtete Sebald würdevoll. Es schien, als habe auch sie Angehörige unter den Opfern der Kadetten. Der Stolz war den Geweihten der gelehrsamen Göttin seit jeher angeboren und doch empfand es Sebald als beunruhigend, wie sehr es die Geweihte verstand, von unten auf ihn herab zu sehen.
Langsam legten sich die erregten Rufe, die Sebald entgegenschlugen und eine zum Zerreißen gespannte Stille trat ein. Sebald wusste, dass wenn er jetzt nicht die richtigen Worte fand, die Unterredung im Lehrsaal ein schnelles Ende finden würde. Mit brüchiger Stimme begann er seine Rede:
„Eure Wohlgeboren, euer Gnaden, meine Damen, meine Herren. Ich weiß, nichts was ich jetzt sage, kann euren Schmerz und euren Verlust aufwiegen.“
Er sah gemessen in die Runde. Herdan von Rauleu, ein untersetzter aber großer Mann mit Kotletten und hochrotem Kopf sah aus, als würde er gleich explodieren.
„Es ist nicht an mir, euer Leid hier weiter zu beschreiben, das euch umtreibt und seit jeher war und bin ich ein Mann der klaren Worte. Glaubt mir, dass ich in meinen Grundfesten erschüttert wurde, als ich erfuhr, welches Drama sich auf dem Darpat zugetragen hatte.“
„Erschüttert wird auch diese Akademie wortwörtlich in ihren Grundfesten, wenn meine Familie euch die vorgestreckten Ausbildungskosten wieder entzieht, welche ihr zur Renovierung dieser maroden Gebäude unbedingt gebraucht habt, von Gerben!“ schrie Sebald die aufgelöste Frau Falswegen entgegen.
Sebald sammelte sich kurz und fuhr fort: „Die Ereignisse rund um den Verlust eurer Kinder und unserer Kadetten ist ein schrecklicher Frevel. Es scheint kein irdischer Gegner gewesen zu sein, der sich der Wolfsjäger angenommen hat. Und genauso wenig waren es profane Ereignisse, die das Lichterfest und den Darpat entweiht haben.“
Gemessen blickte er in die Runde. Er wusste, dass seine klaren, ohne Zögern vorgetragenen Worte Gehör gefunden hatten, aber noch nicht in die von Trauer zerfressenen Herzen gedrungen waren.
„Man kann mir viel vorwerfen, edle Damen und Herren. Doch ein gewissenloser Ausbilder war ich nie. Stets lagen mir das Wohl und eine herausragende Ausbildung der Kadetten am Herzen. Ich war darum bemüht, dass die Flottenakademie zu Perricum bald wieder in neuem Glanz erstrahlen sollte. Auch deswegen habe ich dafür gesorgt, dass der Lehrplan der Flottenakademie wieder näher zur Praxis findet. Habe mich dafür eingesetzt, dass verstaubte Traditionen und der alte Klüngel rund um die Flottenakademie endgültig der Vergangenheit angehören. Ich habe nicht nur dafür gesorgt, dass wir uns von unsinnigen Ansichten und Ritualen trennen, sondern auch gerade deswegen dafür gesorgt, dass sich die Flottenakademie durch Zweckmäßigkeit und Effizienz auszeichnet. Wir haben uns deswegen dazu entschieden, uns für Bewerber aller Couleur zu öffnen. Denn nur Talent und die Liebe zur Seefahrt ist hier ausschlaggebend und nicht ausschließlich ein guter Name“, hierbei blickte er zu Herdan von Rauleu, „oder eine volle Geldbörse“, Sebalds Blick blieb am Ehepaar Falswegen hängen, die ihn angriffslustig anfunkelten.
„Und es zeigte sich, dass ich hierbei Recht behalten sollte. Hier wurden die Kadetten, egal, ob adelig, bürgerlich oder arm wie Kirchenmäuse als beinahe gleiche unter Gleichen behandelt. Und dies förderte den Gemeinschaftssinn und den Gruppengeist. Was sich nicht zuletzt darin zeigte, dass hier stets an einem Strang gezogen wurde und sich der Adelssohn genauso gut mit der Gerberstochter verstand wie der Geweihtensprössling mit dem Kind eines Stadtgardisten. Und so herzzerreißend der Verlust unserer 8 Kadetten in Friedenszeiten auch ist...“ Sebald hielt inne, um sich kurz zu räuspern, „umso wichtiger ist es, die Erkenntnis zu besitzen, dass dank dem gelebten Kameradschaftsgeist untereinander nicht mehr Kadetten umgekommen sind. Dies ist nicht zuletzt auf den reformierten Ausbildungsplan als auch dem Betragen untereinander zu verdanken.“
Die Familie Falswegen und Rauleu sahen betreten zueinander herüber.
„Darüberhinaus bin ich überzeugt, dass unsere tapferen Kadetten ihrem jetzigen Ausbildungsstand entsprechende Lagen mühelos hätten bewältigen können. Schließlich kann ich mir anmaßen, erfahren genug zu sein, junge Männer und Frauen ihrem Können entsprechend so zu fördern und zu fordern, dass die Herausforderungen, denen sich die Aspiranten gegenübersehen bestenfalls dafür sorgen, dass man an ihnen wächst. Das führt mich zu meinem Plädoyer.“
Sebald sah gemessen in die Runde und fuhr mit ernster Stimme fort:
„Dies war keine alltägliche Herausforderung und sicherlich keine der unzähligen Szenarien, denen ein Seekadett gemessen an seinem Ausbildungsstand hätte begegnen dürfen. Selbst die erfahrene Kapitänin der `Wolfsjäger`, Miria von Gaulsfurt, von der bisher noch jede Spur fehlt, konnte dem was sie auf den Fluten des Darpat begegnet ist nicht Stand halten. Und das ist es, was uns in Zorn und Aufruhr versetzen sollte. Weshalb wir auch eine baldige, dringende Untersuchung der Ereignisse anstrengen werden. Wenn unsere Bemühungen fruchten gar an der Seite der Kirche des Stürmischen.“
„Wollen Sie uns etwa weißmachen, dass wir dankbar sein können, dass nur unsere Kinder bei dieser unsinnigen Exkursion ums Leben gekommen sind?“, ereiferte sich die Hesinde-Geweihte im Auditorium.
Vielzählige Zustimmungsrufe erschallten.
„Nein, das möchte ich nicht sagen. Ich möchte nur betonen, dass Ihre Kinder als Seekadetten in der Flottenakademie eingeschrieben waren und, dass es auch während den Zeiten der blutigen See und zur Invasion des zwölfmalverluchten Reichsverräters zu Verlusten in den Reihen der Flottenakademie kam.
Was ich jedoch bereue ist, dass ihre Kinder während einer meiner Ausbildungsvorhaben ums Leben gekommen sind. Aus diesem Grunde stelle ich mich ihrer Wut und Enttäuschung und nehme die Verantwortung auf mich.“
Sebald senkte den Kopf und fuhr mit geschäftsmäßigem Ton fort:
„Ich, Sebald von Gerben, Leiter der Kaiserlich Perricumer Flottenakademie, stelle mich einem Misstrauensvotum der anderen Lehrbeauftragten Kapitäne hier an der Akademie. Wenn sie mit dem eingeschlagenen Ausbildungsweg nicht einverstanden sind, so können sie unverzüglich dafür sorgen, dass jemand anderes, in ihren Augen vielleicht fähigeres, meinen Posten künftig bekleiden wird.
Aber ich betone auch, dass ich mich nach wie vor für den richtigen Mann als Leiter der Flottenakademie halte und es fürderhin notwendig ist, mit vereinten Kräften dem auf den Grund zu gehen, was unsere Kinder dort das Leben gekostet hat. Lasst uns unseren Zorn und unsere Trauer als Triebfeder, ja als Wind nehmen, der unsere Segel der Tatkraft füllen möge. Das ist alles, was ich zu sagen habe.“
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