Geschichten:Schäumende Wasser - Uferloses Verlangen
Am Darpat unweit der Reichsstadt Perricum, Anfang Travia 1043 BF
Sanft strich der laue Herbstwind über die Wiesen an den Ufern des Darpat, dessen Wasser [heute verdächtig] träge ihren Weg zum Golf von Perricum suchten. Die Vögel zwitscherten vergnügt, Grillen zirpten unablässig ihre Melodie. Es war einer dieser Herbsttage, der zum innehalten und verweilen einlud und ein jeder dem es möglich war [und den die Ereignisse der jüngsten Vergangenheit nicht missmutig stimmten], beging diesen Tag mit rahjagefälliger Muße – freilich ein Privileg des Adels.
So hielten es auch die markgräflichen Knappen, die so oft sie nur konnten dem gehetzten Leben in der markgräflichen Residenz Perringrund entflohen und hier, nur wenige Meilen vom Schloss entfernt, am Flussufer ihr Paradies gefunden hatten. Selbst ihre Reittiere, gar stattliche Exemplare aus der Zucht des Markgrafen, schienen sich hier wie die Himmelsrösser der Lieblichen zu fühlen. Übermütig sprangen sie umher oder labten sich genüsslich am satten Grün der Wiesen.
Bar der Insignien ihres Standes lagen die jungen Adligen im Gras. Timshal von Salicum kaute an einem Grashalm, während sein Namensvetter Timshal von Rauleu sich eng an Pernula schmiegte. Die beiden Verlobten würden noch in diesen Mond den Bund der Ehe vollziehen – eine reine Formsache, der lieblichen Rahja huldigten die beiden schon seit das Feuer der Leidenschaft die beiden erfasst hatte. Welch Glück ihnen doch beschieden war, denn auch ihre Verbindung war eine arrangierte und Rahjas Feuer wurde nicht in jedem Bund entfacht.
Xanjida hatte ihren Kopf auf den Bauch von Nedime gelegt und schmökerte in einem Büchlein über garetische Heldensagen. Wie sehr sie diese doch liebte. Ihr Traum war es, selber einmal große Abenteuer zu erleben und spektakuläre Heldentaten zu bestehen. Ihre Ausbeute war bis dato eher ernüchternd, war der Markgrafenhof von Perricum doch eher ein Ort der Höflinge und Hofschranzen und weniger ein Ort der alten, korgonder Ritterlichkeit. Einzig die Ereignisse um das Lichterfest in der Reichsstadt bildete da eine Ausnahme. Aber so ein richtiges Abenteuer war das auch nicht, obwohl sie die anschließende Ehrung durch den Seneschall sehr imposant empfunden und genossen hatte. Verstohlen blickte sie in Richtung des plätschernden Wassers. Wie ruhig und friedlich der Darpat hier war, [nichts von den Gruselgeschichten die sich die einfachen Leute heuer erzählten].
Nedimes weibliche Gesichtszüge strahlten mit der Praiosschreibe um die Wette. Dies waren die wenigen Momente, in denen ihre Seele sich von allen Schrecknissen der jüngeren Vergangenheit befreien konnte und nur im Hier und Jetzt lebte. Vor wenigen Monden war ihr Gemahl vom Brendiltaler Pöbel ermordet worden, sie selber und ihr Neugeborenes rangen wochenlang mit dem Leben. Doch Meister Fesian gelang es, zumindest ihre körperlichen Wunden zu heilen. Ihre Seele litt noch immer. Seit den grauenhaften Ereignissen während der Namenlosen Tage hatte sie ihren Sohn nicht mehr gesehen. Er verblieb in Obhut von Meister Fesian im Palast der Heiler – um seiner Genesung Willen und zu seiner Sicherheit. Die finsteren Subjekte aus dem Süden, die ihre tödlichen Krallen in das Fleisch Herdentors schlugen, würden auch vor ihrem kleinen Sohn nicht Halt machen. Auch wenn sie ihren Gemahl kaum gekannt hatte, er hatte sich für sie und ihren gemeinsamen Sohn geopfert. Dafür war sie ihm unendlich dankbar und würde ihn in Ehren halten. Ihr Blick wanderte zu Pernula und Timshal. Nicht jedes Paar wurde von Rahja mit gegenseitiger Zuneigung und Leidenschaft gesegnet. Doch Nedime entließ ihre schwermütigen Gedanken dem lauen Windhauch, der ihre Nase kitzelte. Es war nicht der Augenblick für Trübsal. Das Leben musste weitergehen und wo wenn nicht hier an diesem paradiesischen Ort? So atmete sie tief aus, schloss ihre Augen und ein zufriedenes Lächeln zauberte sich auf ihr Gesicht.
Leto, der soeben die Pferde versorgt hatte, gesellte sich nur zu gerne in diese Idylle eines Landschaftsgemäldes. Der Vetter des Barons von Dürsten-Darrenfurt stand kurz vor seinem Ritterschlag und war bereits seit drei Monden mit der Erbjunkerin und markgräflichen Kämmerin Melvina von Zackenberg vermählt. Seine Freunde zogen ihn gerne damit auf nun ein ärmlicher Zackenjunker zu sein, doch prallten solcherlei Sprüche an dem überheblichen und sehr von sich überzeugten Perrinländer Adligen ab. Sicherlich, seine Gemahlin war nur Zackenländerin, aber von hochherrschaftlicher Geburt und aus einer sehr ehrbaren Familie.
„Die holde Rahja scheint ja wie wild mit unseren beiden Turteltauben durchzugehen“, durchbrach schließlich Leto die entspannte Stille und blickte dabei zu Timshal und Pernula.
„Bist du deiner Gemahlin etwa schon überdrüssig, oder warum in Rahjens Namen sind es die Gefühlswallungen der anderen die dich so sehr beschäftigen?“, entgegnete Nedime amüsiert. „Wobei, bei dem Zackenländer Charme deiner 'Holden' mag dies auch keine Überraschung sein.“
„Halte mich nicht für einfältig, liebste Nedime“, flötete Leto, „Wer eine gute, verständige und schöne Frau sucht, sucht nicht eine, sondern drei. Eine philosophische Betrachtung, die ich mir zu eigen gemacht habe.“
„Welche der drei genannten Merkmale trifft auf die Zackenländerin zu?“, fragte Xanjida belustigt.
„Sicherlich nicht 'schön'“, frotzelte Nedime.
„Ich bin ein Mann der Liebe und dieses erhabene Geschenk der holden Rahja gibt es in vielen Formen. Sie kann glücklich, neu, aufregend, kurz, tief, leidenschaftlich, manchmal schmerzhaft oder auch unerwidert sein. Ich gedenke all das nicht nur mit einer Person zu erleben.“
„Wahnwitzige, Poeten und Verliebte bestehen aus Einbildung.“ Ein altkluges Grinsen huschte über Nedimes Gesicht. „Soll ich es wagen zu erraten welches auf dich zutrifft?“
„Die Anzahl unserer Neider bestätigt unsere Fähigkeiten, liebste Nedime“, gab Leto süffisant zurück. „Du solltest es mal versuchen. Wir wollen doch nicht, dass du in diesen Dingen verkümmerst.“
„Gesegnet seien jene, die nichts zu sagen haben und den Mund halten.“ Nedime rollte mit den Augen, während sich Xanjida mit einem Lachanfall am Boden wälzte.
„Aber, aber, wir wollen doch nicht ausweichen. Vielleicht ist dein Geschmack zu extravagant.“ Leto machte eine affektierte Handbewegung.
„Ich habe einen ganz einfachen Geschmack: Ich bin immer mit dem Besten zufrieden!“
„Euren philosophischen Ritt durch die liebreizenden Niederungen der Liebe könnt ihr getrost anderen überlassen“, meldete sich nun Pernula in ihrer gekannt schnippischen Art zu Wort. „Nedime, du bist junge Witwe eines todessüchtigen Nebachoten und warst noch nie verliebt. Leto, du bist unglücklich mit einer frigiden Zackenländerin verheiratet und läufst einem Hirngespinst hinterher, das du Liebe nennst. Ihr seid beide aus Einbildung bestehende Poeten, die ihren Mund vielleicht lieber halten sollten.“
„Du hast also die Liebe aus Rahjens vollen Brüsten gekostet? Wie steht es da mit der Leidenschaft? Mit der Versuchung?“ Leto blickte fordernd zu Pernula. „Kannst du ihr widerstehen?“
„Welcher Versuchung sollte ich widerstehen?“ Pernula blickte aufreizend zu den beiden Timshals. „Höre ich da etwa von den Hängen der Zacken Gänsegeschnatter? Nein! Wir sind hier in den Perrinlanden. Die drei lieblichen Schwestern haben dieses Land geküsst und mit ihren Gaben gesegnet.“ Mit Blick zu Leto fügte sie hinzu. „Das mag bei deiner vertrockneten Zackenländerin anders sein.“
Während Leto schwieg, ließen Pernulas Worte Timshal von Rauleu innerlich frohlocken. Nach dem sich die Blicke der Liebenden trafen und mehr ausdrückten als 1000 Worte, fand seine markante Hand wie weichen Gesichtszüge von Timshal von Salicum.
„Versuchungen sollte man nachgeben. Wer weiß, ob sie wiederkommen! Findest du nicht auch?“
Wasserblaue Augen tauchten erst tief in die Grauen seines Gegenübers und suchten dann die Schwarzen von Pernula.
„Allem kann ich widerstehen, nur der Versuchung nicht.“ Mit diesen Worten nahm er sowohl die Hand von Timshal als auch die von Pernula und zog sie an sich. „Wir sollten uns ein ruhigeres Plätzchen suchen.“
So verließen die leidenschaftlich Liebenden die freigeistig philosophierenden Richtung Darpat.
Während die drei von Rahja geküssten zum lockenden Nass liefen, entledigten sie sich ihrer Kleidung, die ihre neue Bestimmung auf herumliegenden Findlingen, sich seicht wiegenden Ästen oder im satten Gras fand. Der sanfte Wind umspielte die jungen Leiber und ließ die Vorfreude ins unermessliche steigern. Wohlgeformte Körper, von der holden Rahja gesegnet, fanden ihren Weg an das Ufer und von dort aus ins Wasser, doch sollte das erfrischende Nass die erregten Gemüter nicht beruhigen, sondern die zügellose Leidenschaft nur noch verstärken.
Timshals Lippen fanden erst die seiner Verlobten, während der junge Salicum seinen Nacken liebkoste. Von blinder Leidenschaft geführt, wühlten die drei Liebenden das vorher noch so mäßig dahin fließenden Wasser des Darpat auf. Wassertropfen, wie Sendboten ihrer Lust, rannen an ihren Gesichtern herunter, nur um wenig später von gierigen Zungen aufgesogen zu werden.
Kurz darauf fanden sie sich auf einer seichten und umspülten Sandbank wieder im leidenschaftlichen Gerangel zu dritt, die Hände in ihrer Vielzahl an den etlichen Rundungen und Erhebungen kostend, während das leicht schäumende Wasser sich immer wieder ebenso um ihre Körper auf sie warf und wieder, immer wieder von ihnen abließ, als würde es die Bewegungen der drei Liebenden nachahmen und der Darpat gemeinsam mit ihnen die Leidenschaft teilen. Immer heftiger und steter wurde der Wellengang und mit ihm kam dieser Geruch, der den Drang der Drei hemmte und ihre erhitzten Gemüter in aufkeimendem Ekel zu ersticken begann. So dass Pernula als erste mehr als nur sich und ihre Liebhaber wieder wahr nahm. Ihrem Begehren nun verleidend wandt sie ihren Blick, der eben noch nur für ihre Timshals brannte, ab. Doch bevor sie sich ein Bild davon machen konnte woher dieser Gestank kam hielt sie bei einer kleinen Krabbe inne. Diese – mit Seepocken übersäte, fünf-beinige und nur noch mit einem Auge ausgestattete - alte Krabbe, die nicht mal mehr dem ärmsten Schlucker zum Verzehr gedient hätte, lief hin und her zwischen zwei Algen bewachsenen Steinen. Dabei in der einen unverkümmerten Schere einen kleinen Stock in die Höhe haltend, unfähig sich aus seiner unsinnigen Situation zwischen den Gesteinsbrocken zu befreien. Hin und her, wieder und wieder, von einem zum anderen Stein, wie ein Untergangspriester, der lautlos und apathisch „Seht her, das Ende ist nah.“ propagieren wollte. Sich von diesem albernen Gedanken lösend, ließ Pernula ab von dem dämlichen Ding und suchte stattdessen weiter nach dem Ursprung des widerlichen Geruchs, während auch ihre Liebhaber nun mehr von Ekel als vom Verlangen gepackt waren.
Sie zählte zwei weitere Krabben, eine in saftigem dunkelrot mit einer eigentümlichen Zeichnung auf dem Rückenpanzer, eine etwas größere in blass-rötlicher Farbe mit klebrigen, dornigen Algen bedeckt. Beide widmeten sich einander und brachen die Schale des anderen, wobei bei zweiterer öliges Schwarz auslief und erstere unvermittelt mit offenem Fleisch da stand, was einige Möwen in der Luft prompt gierig mit ihrem kehligen Laut quittierten. Diesen beiden folgten weitere sechs, die sich tänzelnd und Scheren gereckt bedrohten, zwei in Uferschlamm-bräunlichen Beige mit verklebten Augen, die anderen vier in bläulichem schwarz mit verbogenen Gliedern. Zwischen ihnen ragten einige verkümmerte und verrottende Pflänzchen auf, die ehemaligen Halme grotesk in die Höhe streckend, wie kleine Hände die nach Hilfe suchen. Wo diese noch nach Gnade jappsten, hatten sich andere ihrem Elend schon ergeben und hatten sich zu unappetitlichen grünen, gallertigen Häufchen gekrümmt, zwischen denen weitere Krabben umher wuselten, sich angingen oder sich am (halb)toten, krustigen Körper eines anderen Tieres labten. Den meisten war gemein, dass sie ölig-verklebt, verpockt, verstümmelt oder mit Algen übersät waren. Zur Mitte er Sandbank wurden es immer mehr, bis von ihr, den schleimigen Pflanzenhäufchen und vereinzelt empor schauende Tierschädel nicht mehr übrig war als eine eine krabbelnde, lebende Insel aus grau, rot und beige.
Eben noch in völliger Ekstase und immer noch völlig nackt schauten sich Pernula und die beiden Timshals angewidert und entsetzt in die Gesichter, aus denen jegliche Leidenschaft gewichen war. Während der allgegenwärtigen Gestank bereits ihre Geschmacksknospen verdarb und sie die Fäulnis, die ihm inne wohnte, schon schmeckten, fassten sie sich ein Herz und sich gegenseitig bei den Händen, machten eine ruckartige Bewegung. Die Bank aus Krabben stob auseinander und gaben einen Haufen aus zersetzten Kadavern und einem modernden Menschenleib frei, dessen gammliger Kopf hinten über klappte und die drei Eindringlinge aus leeren Höhlen anstarrte, aus der zuletzt noch eine weitere Krabbe kroch.
Die meisten Krabben ergossen sich, davon rauschend, zurück in den Fluss, die anderen stießen auf die drei zu, doch konnten von ihnen knackend und schlürfend zertreten werden, nicht ohne dass sie ihnen kleine, unangenehm schmerzende Wunden rissen. Dann näherten sie sich angewidert dem stinkenden Haufen, vorbei an weiteren etlichen verdrehten und dunkelgrün-matchigen Pflanzenresten, der Brodem wurde beinahe unerträglich.
Pernula und die Timshals wandten sich schließlich würgend ab und beschlossen ihr Heil am Ufer zu suchen. Hier auf der Sandbank gab es nur den Tod und der war endgültig.
Verstört einander fragend anschauend, suchten makellose Leiber ihren Weg aus dem ruhig dahin plätschernden, aber gar so verdorbenen Fluss. Die Düsternis und der Schrecken versuchte sich in ihren Köpfen festzusetzen. Doch in dem Maße, wie das schlüpfrigen Nass von ihnen abperlte, suchte sich die für einen Moment unterdrückte Leidenschaft brodelnd ihren Weg zurück in die Herzen der drei Liebenden. Je weiter sie sich vom Fluss entfernten, kehrte die ausgelassene Heiterkeit langsam wieder. Es gehörte nicht zum Wesen der Perrinländer sich in die Dunkelheit ziehen zu lassen. Die dem hiesigen Menschen eigene Lebensfreude sollte am Ende immer die Überhand behalten und auch der ihre nackten Körper umschmeichelnde laue Herbstwind schien diese Lebenseinstellung unterstreichen zu wollen.
„Es sei uns wohl diese Vorkommnisse bei Hofe zu melden!“ Kaum hatten diese Worte die sinnlichen Lippen von Timshal von R. verlassen, hatte er bereits wieder nur Augen für die wunderschönen Formen, Schattierungen und Rundungen der jugendlichen Körper vor ihm und verspürte wieder dieses alles verzehrende Feuer der Lust in seinem Unterleib.
„Efferd war uns nicht gewogen, doch war und ist unser Begehr das der lieblichen Rahja. Es käme einem Frevel an der Holden gleich, das in ihrem Namen begonnene, unvermittelt einem Ende zu bereiten.“ Die Worte, die die sonore Stimme von Timshal von S. formten, fanden Anklang bei den anderen beiden Liebenden und so ward der Schrecken der letzten Augenblicke schnell vergessen.
Später, sehr viel später würden sie dem Seneschall Bericht über die Vorkommnisse im Darpat erstatten, aber jetzt hatten sie nur Augen füreinander und ergaben sich der Ekstase dieses Momentes.